DOMRADIO.DE: So etwas hat es im deutschsprachigen Raum noch nicht gegeben. Wie kam es denn zur Idee, ein Chorbuch für gemischten Chor ausschließlich mit geistlichen und weltlichen Werken von Komponistinnen zu erstellen?
Franziska de Gilde (Chorleiterin, Gesangspädagogin und Mitherausgeberin des neuen Chorbuches): Ich finde, das kulturelle Schaffen ist das Produkt einer Gesellschaft in einer bestimmten Zeit. Und dazu gehören natürlich männliche, aber auch weibliche Komponistinnen. Die Literatur und die bildende Kunst sind hier der Chormusik ein bisschen voraus. Da gibt es mehrere Sammelwerke, die den Blick auf die rein weibliche Kunst lenken oder auf die Kunst, die von Künstlerinnen erschaffen wurde.
Das gibt es durchaus in der Musik, besonders im Bereich der Klaviermusik und beim Kunstlied. Das kommt daher, das diese beiden Genres früher als "schicklich" für weibliche Komponistinnen galten. Für den Chorbereich aber fehlte eine Sammlung im deutschsprachigen Raum bis jetzt. Und deswegen haben wir uns ja auf den Weg gemacht und haben Archivarbeit betrieben.
Wir, das sind das HerausgeberInnen-Team aus Mary Ellen Kitchens, Jan Schumacher und mir. Wir haben viel geforscht, unter anderem auch im Archiv für Frau und Musik in Frankfurt und sind jetzt sehr froh, dass wir mit dem Carus-Verlag diese Chorsammlung herausgeben konnten. Wir hoffen natürlich, dass insgesamt dann auch mehr Komponistinnen in Konzerten zukünftig zu hören sind.
DOMRADIO.DE: Das Buch ist dafür eine gute Voraussetzungen. Was für Werke finden sich denn darin? Für welche Chöre ist es geeignet?
de Gilde: Diese Sammlung beinhaltet Stücke mit ganz unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden. Es gibt sowohl Kanons als auch leichtere 3- bis 4 stimmige Sätze. Besetzt ist die Musik für Sopran, Alt, Tenor Bass. Aber es gibt auch einige komplexe Chorwerke für ambitionierte Laienchöre. Also das Buch kann generell bei Laienchöre eingesetzt werden.
Es gibt Musik aus vielen Epochen, vom Barock bis zu zeitgenössischen Werken. Wir haben einige Kompositionsaufträge vergeben. Es gibt viele geistliche Werke, es gibt auch weltliche Werke, und hauptsächlich sind darin a capella-Stücke enthalten. Es gibt aber auch einige Kompositionen mit Klavier- oder Orgel-Begleitung.
DOMRADIO.DE: Und nach welchen Kriterien haben Sie denn dann ganz konkret die Werke für dieses Chorbuch ausgesucht?
de Gilde: Natürlich haben wir immer nach der höchsten musikalischen Qualität gesucht. Dann wollten wir viele Epochen abdecken, ebenso einen großen geografischen Raum. Damit eben nicht nur italienischer Barock und deutsche romantische Musik darin sind, sondern wir haben über den Tellerrand hinaus geschaut. Und wir haben natürlich nach Stücken gesucht, die Spaß machen zu singen.
Dazu haben wir uns dann auch oft getroffen und haben die Stücke angesungen, um zu schauen, ob sie funktionieren. Denn es waren Stücke dabei, die sehr unbekannt sind und teilweise sehr wenig aufgeführt werden. Und die Stücke sollen ja Lust aufs Singen machen.
DOMRADIO.DE: Frauen haben über Jahrhunderte kaum Möglichkeiten gehabt als Komponistinnen in Erscheinung zu treten. Was wäre denn ein Beispiel für eine Frau, die es dennoch geschafft hat, dass sich ihre Werke auf der einen Seite überhaupt erhalten haben und zum anderen, dass zu Lebzeiten sogar ihre Werke öffentlich aufgeführt worden sind?
de Gilde: Da gibt es tatsächlich gar nicht so wenige Frauen, die das geschafft haben. Ein Beispiel ist Barbara Strozzi. Die ist vielleicht noch eine der bekannteren Komponistinnen aus unserer Sammlung. Sie lebte im 17. Jahrhundert in Venedig als uneheliche Tochter. Und dieser Status macht es ihr unmöglich zu heiraten. Sie verdient aber trotzdem ihren Lebensunterhalt komplett als Sängerin und Komponistin selbst. Und es ist überliefert, dass sie dabei sogar so viel verdient hat, dass sie bestimmte Summen an Freunde und Bekannte verleihen konnte.
Ich finde, das ist wirklich eine herausragende Persönlichkeit. Sie war unabhängig auf so vielen Ebenen. Sie hatte keinen Mann, trotzdem vier Kinder, kein festes Arbeitsverhältnis und war trotzdem durch ihren eigenen Verdienst komplett finanziell abgesichert und unabhängig.
Ein weiteres Beispiel, mehr aus unserer Zeit ist Amy Beach. Amy Beach lebte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, sie gilt als erste Frau in den USA, von der eine Sinfonie zu Lebzeiten veröffentlicht und sogar von einem professionellen Orchester aufgeführt wurde.
Wenn man also ein bisschen genauer hinschaut, dann sieht man, dass Frauen nicht nur im stillen Kämmerlein geschrieben haben. Und was ich wichtig finde an unserem Chorbuch ist, dass wir hinten im Anhang zu jeder Frau eine knappe biografische Notiz geschrieben haben und da kann man gerne noch ein bisschen drin rumstöbern.
DOMRADIO.DE: Im Buch sind Werke von Komponistinnen aus vergangenen Jahrhunderten wie Clara Schumann enthalten. Aber Sie haben für das Chorbuch auch Auftragswerke für heutige Frauen vergeben. Wie haben denn diese Komponistinnen auf die Anfrage reagiert?
de Gilde: Für sie ist Komponieren natürlich ihr tägliches Brot, aber trotzdem haben sie sich über die Anfrage gefreut, da diese Chorsammlung wirklich ein Novum im deutschsprachigen Raum ist. Die meisten haben ihr Interesse bekundet und dann entweder Stücke ausgesucht, die sie schon geschrieben, aber noch nicht veröffentlicht haben oder sie haben explizit für diese Sammlung etwas Neues geschrieben.
Vor zwei Wochen war ja die chor.com, die große Messe für Chormusik in Hannover, und da haben wir diese Sammlung vorgestellt und es waren auch zwei Komponistinnen anwesend, einmal Elisabeth Fußeder und Lea Morris. Sie haben ihre Stücke mit dem Publikum einstudiert. Da konnte man die Komponistinnen einmal konkret vor Augen haben und live erleben.
DOMRADIO.DE: Früher war ja Dirigent gleich Mann, das hat sich durchaus geändert. Wie optimistisch sind Sie denn für den Bereich des Komponierens, dass es irgendwann egal ist, von wem die Musik stammt, Hauptsache, sie ist gut komponiert? Mit anderen Worten: dass Komponistinnen selbstverständlich und gleichberechtigt sind?
de Gilde: Ja, das ist natürlich eine Utopie, die ich mir aber möglichst bald herbeisehne. Doch in der Realität haben sowohl Personen, die auf der Bühne sind, als auch komponierende Frauen mit Vorurteilen zu kämpfen. Und das gilt nicht nur im künstlerischen Bereich.
Ich glaube, wir alle haben schon mal von der Gender Pay Gap gehört, dass Frauen also weniger verdienen bei gleicher Arbeit als Männer. Und dann muss man natürlich auch noch beachten, dass soziale oder nationale Herkunft und Behinderung und so etwas alles noch Attribute sind, die zum Genderaspekt hinzukommen. Und die erschweren natürlich den beruflichen Erfolg von Personen.
Ich glaube, wir haben noch viel zu tun, aber ich bin trotzdem optimistisch, weil gerade durch so kleine Aktionen wie die Herausgabe dieses Buches oder wenn man einfach mehr Komponistinnen in den eigenen Konzertprogrammen integriert, dass man damit den Weg in die richtige Richtung ebnet.
DOMRADIO.DE: Es gibt 47 Werke von 45 Komponistinnen in dem Chorbuch. Was wünschen Sie denn den Nutzerinnen und Nutzern des Buches?
de Gilde: Ja, zuerst einmal sollen sie ganz viel Spaß damit haben. Ich hoffe, dass sie viele neue Stücke durch das Buch kennenlernen und auch Spaß daran haben, sie selber zu singen oder eben als Chorleiterin oder Chorleiter zu leiten. Und ich hoffe, dass vielleicht einige davon angesteckt und motiviert werden, sich auf die Suche zu begeben und vielleicht noch unentdeckte Schätze von Komponistinnen zu entdecken.
Das Interview führte Mathias Peter.
Das komplette Interview mit Franziska de Gilde wird am Sonntagabend im Radioprogramm von DOMRADIO.DE in voller Länge ab 20 Uhr ausgestrahlt.