Holocaust-Überlebende las aus ihren Erinnerungen

"Nie wieder Krieg"

Esther Bejarano ha Auschwitz nur überlebt, weil sie Akkordeon spielen konnte. Noch als 94-Jährige kämpfte die Jüdin in einer Rap-Band gegen Rassismus an – und gegen das Vergessen.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Mit einfachen Sätzen, aber eindringlich und kraftvoll beschreibt Esther Bejarano ihre Verfolgung durch die Nazis / © Beatrice Tomasetti (DR)
Mit einfachen Sätzen, aber eindringlich und kraftvoll beschreibt Esther Bejarano ihre Verfolgung durch die Nazis / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Dieser Artikel erschien am 24. Januar 2019. Wir veröffentlichen ihn noch ein mal - zum Gedenken an Esther Bejarano.

Am Ende singt Esther Bejarano noch einmal "ihr" Lied; den Schlager "Du hast Glück bei den Frauen, Bel Ami". Er war im Nazi-Deutschland der 1940er Jahre gerade ein Hit. Ein Glück, dass die nur knapp ein Meter fünfzig große Frau diese Melodie nicht nur singen, sondern sogar auf dem Akkordeon spielen konnte. Denn eigentlich hatte die damals 19-Jährige dieses Instrument nie zuvor in der Hand gehabt. Klavierspielen – ja, das konnte sie. Aber ein Klavier gab es nicht im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Nur ein Akkordeon.

Also nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und bestand die Prüfung zur Aufnahme in das neu gegründete Mädchenorchester des Vernichtungslagers. Auf Befehl der SS sollten junge Musikerinnen gefunden werden, die später die höhnische Begleitmusik liefern mussten, wenn neue Kolonnen von Judentransporten im Lager ankamen oder die Menschen mit Marschklängen in die Gaskammern geschickt wurden. Esther hatte es geschafft. Sie war nun eine von denen, die als Orchestermitglied für sich persönlich eine "Galgenfrist", so nennt sie das, aushandeln konnte.

"Nie wieder Krieg"

"Wie prahlten die SS-Schergen mit diesem Orchester. Vor den Nazi-Bonzen spielten sie sich damit auf, während sie die vielen verzweifelten und großteils geschwächten oder kranken und alten Menschen zu schwerster körperlicher Arbeit abkommandierten, sie quälten und folterten", sagt Esther Bejarano mit fester Stimme, als sie aus ihrem Buch vorliest. Denn ihre Erlebnisse von damals hat die Holocaust-Überlebende, deren gesamte Familie von den Nazis ermordet wurde, in ihrem Buch "Erinnerungen" zusammengestellt. "Nie wieder Krieg" lautet ihr Appell an alle nachfolgenden Generationen, den sie – auch ohne ihn auszusprechen – in jedem ihrer einfach formulierten Sätze mitliefert.

Im Erzbischöflichen Irmgardis-Gymnasium, in dem auf Initiative des Diözesanrates diese Lesung stattfindet, trifft Bejarano mit ihrer Botschaft auf viel Zustimmung. Aufmerksam hören der alten Frau knapp 500, zum Großteil junge Menschen gebannt zu. Ihre Geschichte dürfe sich niemals wiederholen, hatte Schulleiterin Jacqueline Friker zuvor bei ihrer Begrüßung gesagt und betont, dass es etwas ganz Besonderes sei, im Jahr 2019 noch einer Zeitzeugin der nationalsozialistischen Gräueltaten zu begegnen.

Auseinandersetzung mit dem Thema "Holocaust"

Nicht zum ersten Mal hat die Oberstudiendirektorin ihre Schülerinnen und Schüler sowie deren Familien zu einer berührenden Auseinandersetzung mit dem Thema "Holocaust" eingeladen. Eine so wichtige Lehrstunde, für die diesmal Oberbürgermeisterin Henriette Reker und Generalvikar Dr. Markus Hofmann die Schirmherrschaft übernommen haben, steht für Friker ganz oben auf der pädagogischen Agenda. Auch Norbert Michels, Geschäftsführer des Diözesanrates der Katholiken im Erzbistum Köln, mahnt: "Wir alle sind aufgefordert, das Testament von Shoa-Überlebenden wach zu halten und uns gegen Rechtsextremismus, gegen Antisemitismus, für Menschenfreundlichkeit und für eine wehrhafte Demokratie einzusetzen, damit nie wieder Krieg und Terror geschehen."

Dr. Peter Krawczack, stellvertretender Leiter der Hauptabteilung Schule/ Hochschule im Generalvikariat, pflichtet bei: "Nie wieder Krieg" – diese Forderung sei für viele lange Zeit die einzig mögliche Art gewesen, mit der bedrückenden Frage, was sie hätten tun, was sie hätten wissen können, umzugehen. "Die Scham, dass eine solche Barbarei von unserem Land ausgehen konnte, führte vielfach in eine Sprachlosigkeit, die erst nach vielen Jahren überwunden werden konnte."  Umso mehr gelte der Auftrag an die nachfolgenden Generationen, sich um die Zerbrechlichkeit des Friedens, der Demokratie und unserer ganzen Zivilisation zu sorgen. Es gebe eine Verantwortung zu gedenken. "Und wir stehen in der Verantwortung, neuem Unrecht gegenüber jüdischen Mitbürgern zu wehren, so Krawczack.

Flucht auf einem "Todesmarsch"

Esther Bejarano, überlebte das Vernichtungslager Auschwitz, in dem bis zur Befreiung durch die sowjetische Armee eine Million Juden ermordet wurden. 1924 geboren in Saarlouis, sollte sie 1939 nach Palästina ausreisen, doch der Ausbruch des Krieges kommt dazwischen. Ab 1941 verrichtet die junge Frau Zwangsarbeit, 1943 wird sie nach Auschwitz deportiert. Hier schleppt sie Steine – "eine völlig sinnlose Arbeit" – bis sie von der Leiterin des Mädchenorchesters entdeckt wird. Später wird sie ins KZ Ravensbrück geschickt; auf einem der sogenannten Todesmärsche, auf dem viele entkräftete Juden sterben oder erschossen werden, kann sie fliehen und sich mit wenigen ihrer Leidensgenossinnen unter eine Gruppe von Flüchtlingen mischen, die in den Maitagen 1945 schließlich von den Amerikanern aufgegriffen und gerettet wird. "Das Bild, als wir auf einem Marktplatz in Mecklenburg völlig abgemagert und erschöpft ankamen, dort um das lichterloh brennende Bild Hitlers tanzten, werde ich niemals vergessen. In diesem Moment habe ich mich vom Hitler-Faschismus befreit; dieser Tag war meine zweite Geburt", sagt Esther Bajarano.

Was Menschen wie sie zeitlebens mit sich herumschleppen, ist in Bejaranos Aufzeichnungen nachzulesen. Und dass es die Hölle war. Da schreibt sie von den Sammellagern, den dort herrschenden unmenschlichen hygienischen Zuständen: von den überfüllten Waggons, in die die Menschen wie Vieh eingepfercht wurden, von der grausamen Trennung der Familien, von der Häme, mit der sie von SS-Frauen in ihrem Block begrüßt wurde, von der Scham, als sich alle nackt ausziehen sollten, die Harre geschoren bekamen und Häftlingskleidung anziehen mussten.

Sie beschreibt die Kälte, den Hunger – und die Angst. Sie berichtet davon, dass ihr die Nummer 41.948 unter die Haut gespritzt wird, sie von nun an zu den Namenlosen gehört, bis zu zehn Frauen in einer Koje auf einer nackten Holzpritsche ohne Decke liegen und sie sich von einer braunen Brühe aus Wasser und Kartoffelschalen ernähren müssen. Und sie schildert, dass sie eine Woche lang hungert, um mit einem Leib Brot, den sie sich vom Mund abspart, einen Pullover in der Effektenkammer zu kaufen, in der die Nazis horten, was sie zuvor den Häftlingen abgenommen haben.

Mit der Rap-Gruppe Microphone Mafia unterwegs

Noch heute ist Esther Bejarano trotz ihres Alters mit der Rap-Gruppe Microphone Mafia unterwegs, die der Kölner Kutlu Yurtseven, Sohn türkischer Einwanderer und so etwas wie der Bandleader, im Jahr 1989 gegründet hat. Seit zehn Jahren gehören Esther Bejarano und ihr Sohn Joran mit dazu, die überall dort ihre Stimme erheben, wo sie glauben, gegen Rassisimus, Antisemitismus und Gewalt eintreten zu müssen. Ihre Songtexte sind auf Hebräisch, Jiddisch, Deutsch und Türkisch geschrieben – oder Kölsch.

Aber nicht nur musikalisch sind die drei eine eingeschworene Truppe, die das Publikum mitreißt. Ihre Auftritte sind immer auch ein Bekenntnis zu einer friedlichen Koexistenz innerhalb einer multikulturellen Gesellschaft. So werden die Erzählungen von "Mutti Bejarano", wie Yurtseven das älteste Bandmitglied liebevoll nennt, von Erfahrungen und Beobachtungen ergänzt, die der Microphone-Rapper als Kind von Einwanderern in Deutschland macht, wenn er auch heute noch – trotz seines deutschen Passes – manchem Vorurteil begegnet.

Die gemeinsame Leiderfahrung, sagt Esther Bejarano, habe zusammengeschweißt. Sie sieht ihren Auftrag darin, in Schulen zu gehen – so lange sie es noch kann – und jungen Menschen Fragen zum dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte zu beantworten. Und sie will dem Schweigen zum erneuten Erstarken von rechts etwas entgegensetzen. Erinnerungsarbeit Jugendlichen zugänglicher machen – den Ansatz verfolgt Kutlu Yurtseven. Angesichts der aktuellen politischen Entwicklung sollten wir uns alle in Grund und Boden schämen, wenn wir schweigen, sagt er. "Wir dürfen nicht zulassen, dass uns dieses Schweigen eines Tages selbst erschlägt." Eine mutige Überzeugung, die er mit Esther Bejarano teilt.


Die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano verdankt ihrem Akkordeon-Spiel ihr Leben / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano verdankt ihrem Akkordeon-Spiel ihr Leben / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes überbringt Grüße von der Schirmherrin des Abends, OB Henriette Reker / © Beatrice Tomasetti (DR)
Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes überbringt Grüße von der Schirmherrin des Abends, OB Henriette Reker / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Norbert Michels, Diözesanrat, Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes und Dr. Peter Krawczack von der Schulabteilung im Generalvikariat (von links) / © Beatrice Tomasetti (DR)
Norbert Michels, Diözesanrat, Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes und Dr. Peter Krawczack von der Schulabteilung im Generalvikariat (von links) / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Esther Bejarano liest aus ihrem Buch "Erinnerungen" / © Beatrice Tomasetti (DR)
Esther Bejarano liest aus ihrem Buch "Erinnerungen" / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Sie ziehen an einem Strang beim Thema "Erinnerungsarbeit": Schulleiterin Friker, Vertreter des Erzbistums und Elfi Scho-Antwerpes, Bürgermeisterin / © Beatrice Tomasetti (DR)
Sie ziehen an einem Strang beim Thema "Erinnerungsarbeit": Schulleiterin Friker, Vertreter des Erzbistums und Elfi Scho-Antwerpes, Bürgermeisterin / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Die Erinnerung an die Gräueltaten der Nationalsozialisten müsse wach gehalten werden, mahnt der Initiator der Lesung, Norbert Michels / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die Erinnerung an die Gräueltaten der Nationalsozialisten müsse wach gehalten werden, mahnt der Initiator der Lesung, Norbert Michels / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Überwiegend junge Leute sind zu der Schulveranstaltung ins Irmgardis-Gymnasium gekommen / © Beatrice Tomasetti (DR)
Überwiegend junge Leute sind zu der Schulveranstaltung ins Irmgardis-Gymnasium gekommen / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Seit zehn Jahren gibt es die Rap-Band "Microphone Mafia" in dieser Besetzung / © Beatrice Tomasetti (DR)
Seit zehn Jahren gibt es die Rap-Band "Microphone Mafia" in dieser Besetzung / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Kutlu Yurtseven, Kölner mit türkischen Wurzeln, ist Moderator, Sänger und Rapper in einem / © Beatrice Tomasetti (DR)
Kutlu Yurtseven, Kölner mit türkischen Wurzeln, ist Moderator, Sänger und Rapper in einem / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Ihre Songs singt Esther Bejarano auf Hebräisch, Jiddisch oder auch Kölsch / © Beatrice Tomasetti (DR)
Ihre Songs singt Esther Bejarano auf Hebräisch, Jiddisch oder auch Kölsch / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR