DOMRADIO.DE: Der 31. Oktober ist das Austrittsdatum, zu dem sich Großbritannien aus der Europäischen Union verabschieden will. Ob es soweit kommt, ist im Moment wieder mehr als fraglich. Das britische Unterhaus hat eine Entscheidung am vergangenen Samstag vertagt, eventuell wird es an diesem Montag entscheiden. Premierminister Boris Johnson hat den Antrag auf Fristverlängerung für den Austritt zwar in Brüssel eingereicht, allerdings ohne ihn zu unterschreiben. Aus Protest. Im Moment scheint wieder alles möglich, von Neuwahlen bis hin zu einem zweiten Referendum. Haben Sie noch den Überblick bei das ganze Brexit-Hin-und-Her?
Johannes Arens (Domkapitular an der anglikanischen Kathedrale in Leicester): Wir sind alle irgendwie süchtig nach Nachrichten, aber seit drei Jahren gibt es nicht wirklich etwas Neues. Das Land ist in Bezug auf diese Frage zutiefst gespalten. Das grundlegende Problem ist dasselbe wie seit drei Jahren. Man weiß zumindest einigermaßen, was es bedeuten würde, in der Europäischen Union zu bleiben. Aber es ist völlig unklar, was es bedeutet auszutreten. Man kann alles Mögliche versprechen oder alles Mögliche darunter verstehen. Und das ist genau das Problem: Es ist nicht klar.
DOMRADIO.DE: Sie arbeiten in Leicester. Ist es so, dass die Menschen dort in einer eher ländlichen Region anders denken als die Leute in London?
Arens: Ja, das stimmt. Leicester ist eine Universitätsstadt mit zwei ziemlich großen Universitäten und etwa 50.000 Studenten. Bei 300.000 Einwohnern ist das eine Menge. Die Stadt ist überwiegend europäisch geprägt, auch dadurch, dass es hier so viele Einwanderer gibt. Leicester ist die Stadt mit den meisten Einwanderern in Großbritannien beziehungsweise England. Das Umland ist ausgesprochen ländlich und hat weitgehend für den Brexit gestimmt. Die Stadtbevölkerung hat überwiegend für die Europäische Union gestimmt.
DOMRADIO.DE: Es ist manchmal schwer nachzuvollziehen, weshalb jemand sagt, der Austritt sei nach diesem ganzen Hin und Her eine gute Idee. Welche Argumente werden dafür angeführt?
Arens: Es gibt eigentlich immer noch relativ wenig Gespräche darüber, weil das Thema so ausgesprochen emotional aufgeladen ist. Da hängt ganz viel Gefühl dran, eine gewisse Nostalgie: Früher war alles besser, früher ging es doch auch, früher waren wir alleine. Es ärgern sich viele Leute über Bestimmungen. Ich kriege das von Bauern mit, die sich über Milchquoten und über Subventionen ärgern, die das zum Teil berechtigterweise als ungerecht empfinden oder sagen: Bei uns wird das kontrolliert, in anderen Ländern längst nicht so streng.
Die Bürokratie ärgert sehr viele Leute. Das ist ein Argument. Oder dass die EU so weit weg ist und man irgendwie wenig Mitbestimmung hat. Es fühlt sich auch sehr viel weiter weg an von Deutschland aus, weil man eben noch das Meer dazwischen hat.
DOMRADIO.DE: Sie sind Domkapitular an der Kathedrale in Leicester, also anglikanischer Priester. Was sagt denn Ihre Gemeinde zu dem ganzen Thema? Wie stehen die Christen dazu?
Arens: Gleichfalls gespalten. Die Domgemeinde ist mitten in der Stadt, sehr innerstädtisch geprägt. Die überwiegende Mehrheit der Leute hier in der Gemeinde ist gegen den Austritt. Aber es gibt welche, die dafür sind. Gespräche darüber sind ausgesprochen schwierig. Wir sind uns aber alle einig, dass der hasserfüllte Ton in dieser Debatte ausgesprochen wenig hilfreich ist. Der Mord an der Parlamentarierin Jo Cox ist ja auch erst drei Jahre her.
Viele Leute sind ausgesprochen erbost über die Sprache. Wenn Boris Johnson sagt, das sind Verräter, die gegen den No- Deal-Austritt gestimmt haben, dann macht das viele Leute sehr betroffen und nachdenklich und sie sind auch ausgesprochen peinlich berührt. Da sind sich Christen sehr einig, dass der Umgangston im Moment eindeutig der falsche ist.
DOMRADIO.DE: Ihr Primas, Erzbischof Justin Welby, spricht in der Regel relativ positiv über den Brexit, hat vor Kurzem sogar den Brexit-Gegnern gesagt, sie sollen aufhören zu jammern und sich den Tatsachen stellen. Warum nimmt die Kirche da so deutlich Stellung?
Arens: Die Kirche versucht, eigentlich überhaupt nicht Stellung zu nehmen. Es gibt einen Hirtenbrief zum Thema politischer Diskurs, in dem der hasserfüllte Ton als vollkommen unangemessen kritisiert wird. Die Aussage hat Justin Welby in einem informellen Gespräch gemacht, als er sich über etwas geärgert hat. Im Anschluss daran hat er sich dafür entschuldigt. Das ist keine offizielle Verlautbarung. Das ist irgendetwas, was er im Nebensatz gesagt hat. Da hätte ich mich auch darüber geärgert, wenn er sich nicht entschuldigt hätte.
Das Problem ist, dass die Kirche zum größten Teil dem Brexit sehr misstrauisch gegenübersteht. Aber sie versucht, sich aus der politischen Diskussion herauszuhalten. Aber nichtsdestoweniger deutliche Worte findet sie, wenn der politische Gegner als Verräter beschimpft wird. Dazu gab es dann einen Hirtenbrief.
DOMRADIO.DE: Das eigentlichen Austrittsdatum rückt näher. Von EU-Seite heißt es, dass, selbst wenn es heute eine Bestätigung im Unterhaus gibt, das nicht durchzuführen sein wird. Was denken Sie? Wie wird es in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen?
Arens: Wenn ich das wüsste. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Am vergangenen Samstag waren in London eine Million Menschen auf der Straße. Das ist die zweitgrößte Demonstration in der Geschichte Großbritanniens. Mehr Leute gab es nur damals beim Irak-Krieg, die sich dagegen mobilisiert haben. Eine Million Leute ist unglaublich viel.
Im Moment reden immer alle darüber, dass das Mehrheitsvotum der knapp 52 Prozent befolgt werden muss. Aber das ist drei Jahre her. Mittlerweile wissen wir ein bisschen mehr darüber, wie das aussehen soll. Ich denke, das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Es bleibt spannend. So unangenehm das ist.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.