Akademiedirektor: Deutschland und Europa müssen mehr zusammenwachsen

"Niemanden verloren geben"

60 Jahre nach Mauerbau gibt es immer noch viel Trennendes in Deutschland und Europa. Gerade die Generation, die die Mauer nicht mehr erlebt hat, solle sich auch heute noch für Versöhnung und Einheit einsetzen, findet Dr. Thomas Arnold.

60 Jahre Mauer: Eine Frau betrachtet die bemalten Betonsegmente der Berliner Mauer / © Wolfgang Kumm (dpa)
60 Jahre Mauer: Eine Frau betrachtet die bemalten Betonsegmente der Berliner Mauer / © Wolfgang Kumm ( dpa )

DOMRADIO.DE: Was lernen die nachgeborenen Generationen über Trennung und Wiedervereinigung?

Dr. Thomas Arnold (Direktor der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen): Ich frage mich manchmal, ob sie genug lernen. In den letzten Tagen war die Diskussion wieder da, ob die Schüler, die Jugendlichen ausreichend Historisches über Mauerbau, über DDR, über Unrechtsstaat, über Willkür erfahren. Darüber möchte ich mir kein Urteil erlauben. Ich plädiere aber sehr stark für einen Dreischritt. Nämlich erstens ein Erinnern an das Leid und einen Erfahrungsaustausch auch in Zukunft von den jungen Generationen.

Wir brauchen keine Klassifizierung als Ossi oder Wessi. Wir brauchen auch als Menschen in den neuen Bundesländern keinen Neid und kein Mitleid. Was es braucht, ist aus meiner Sicht das ernsthafte Sprechen über die Frage: Was hat dich, was hat deine Eltern geprägt? Sowohl in West als auch in Ost. Und dann könnten wir, glaube ich, als Christen schon das Menschenbild einbringen, das im Glauben den Ursprung hat und wo es darum geht, nicht nur die Gewinner in den Mittelpunkt zu stellen, nicht nur die gute Botschaft von dem, was geschafft wurde, zu erzählen, sondern vielleicht auch den Blick auf Verlierer, auf Täter mitzunehmen auch in dieser Geschichte, um mit ihnen Versöhnung zu suchen.

Zweiter Schritt wäre, die Koordinaten Europas neu durchzubuchstabieren. Natürlich haben wir die Geschichte des 20. Jahrhunderts, was Europa auch zusammengeführt hat. Aber die neue Generation muss ein drittes Gemeinsames suchen, worüber sie sich nicht nur unterhalten kann, sondern woran sie mitbauen kann, womit sie Brücken bauen kann zwischen Ost und West – mit einer Erfahrung, die sie gehört hat.

Deswegen freue ich mich, dass gerade im Moment auch in Görlitz junge Menschen zusammenkommen unter dem Titel "Koordinaten Europas" und miteinander überlegen: Was sind die Werte, auf die wir in Zukunft aufbauen können? Und das Dritte ist natürlich, Menschen zu befähigen, wirklich in gesellschaftliche Prozesse sich einzubringen.

DOMRADIO.DE: Trennung und Wiedervereinigung. Inwieweit ordnen Sie da das Erstarken der Rechten vor allem im Osten der Bundesrepublik ein?

Arnold: Ich habe gestern Marco Wanderwitz wahrgenommen, der die AfD und die fehlende Impfbereitschaft im Osten Deutschlands in einen engen Zusammenhang stellt. Das halte ich für eine gewagte These. Aber ich möchte ganz stark dafür plädieren, niemanden in den neuen Bundesländern verloren zu geben. Natürlich prägt eine ganze Gesellschaft und die Biografien der Menschen, die das erlebt haben, diese Erfahrung von Willkür, von Diktatur. Die Menschen sind darin sozialisiert, auch meine Eltern und auch ich ein Stück weit – aus den Prägungen.

Aber: Wenn wir die Menschen aufgeben, wenn wir die Hoffnung aufgeben, auch ihr Denken mit zu verändern, dass sie sich in Freiheit auch anders entscheiden können, weil sie andere Argumente hören, dann haben wir, glaube ich, auch da das christliche Menschenbild nicht vollkommen verinnerlicht.

Ich arbeite daran und ich wünsche mir viele Menschen, die daran arbeiten, in Freiheit Verantwortung zu übernehmen, im öffentlichen Raum mit zu diskutieren, warum es zum Beispiel gut ist, sich impfen zu lassen. Warum es gut ist, dass wir diese freiheitliche, liberale Demokratie haben, dass wir Meinungsvielfalt haben, dass wir Pressefreiheit haben. Das, was im Moment ganz viel angezweifelt wird von manchen. Dass wir nicht irgendwelchen rechtspopulistischen Alternativen den Raum lassen, sondern dass wir darauf vertrauen, in Freiheit die Diskussion zu führen, aber dann auch darauf vertrauen, dass die Menschen sich entscheiden für etwas, was für Menschen aufbauend ist.

DOMRADIO.DE: Wie steht unser vereinigtes Deutschland jetzt 30 Jahre nach dem Mauerfall in Europa da?

Arnold: Ich bin in den letzten Tagen im Urlaub gewesen in Süddeutschland. Da haben mir Menschen erzählt, wie sie aus Süddeutschland stammend in den 70er, 80er Jahren die Situation im heutigen Herzen Deutschlands an der damaligen Grenze erlebt haben: mit Angst, mit Koffer ausschütten, auch da wieder mit Willkür, für die zerstörten und kaputten Städte im Osten Deutschlands.

Ich lade alle ein, nicht nur touristisch mal nach Sachsen, Thüringen oder Brandenburg zu kommen, sondern sich auch wirklich Zeit zu nehmen und zu hören und zu schauen. Da werden sie sehen, wunderbar renovierte Städte, da werden sie erleben, gebrochene oder zumindest zweifelnde Biografien. Da werden sie aber auch erleben, dass dieses Europa noch einmal einen neuen Impuls braucht.

Und ich glaube, dass wir zwei Krisen in den letzten Jahren hatten: Die Migrationskrise und auch jetzt Corona, die uns noch einmal sehr deutlich vor Augen geführt haben, dass wir eine größere Solidarität in Europa brauchen. Das geht aber nicht, ohne auch den Osten Europas mit seiner Biografie zu verstehen. Deswegen dürfen wir die Visegrad-Staaten nicht nur verurteilen, nicht nur an die Werte erinnern, sondern müssen auch immer mal mutig und empathisch fragen: Warum reagieren sie so? Wie können wir das vielleicht noch mal hören auch verstehen wollen und dann darauf reagieren? Nicht nur mit unserer Prägung, auch im Westen Europas, sondern wo können wir auf den Osten Europas, auf Polen, auf Tschechien et cetera zugehen und dort ein Miteinander suchen?

Es geht hier um eine Vielheit in Einheit. Und wenn ich Papst Franziskus' Theologie ernst nehme, dann geht es auch um Versöhnung. Das erlebe ich auch in seinem Denken für Europa, dass er danach strebt, ein versöhnendes Europa zu haben mit offenem Herzen. Das wünsche ich mir und ich glaube, da ist noch Luft nach oben. Dafür gibt es jetzt eine neue Generation, die daran mitarbeiten kann.

Das Interview führte Dagmar Peters.


Dr. Thomas Arnold, Direktor der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen / © Oliver Killig (Katholische Akademie Bistum Dresden-Meißen)
Quelle:
DR
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