Eine neue Studie sagt, dass das Problem noch nicht aus der Welt ist – und sorgt für Diskussionen. Gibt es weniger Missbrauchsvorwürfe gegen Priester, weil sich die katholische Kirche seit 2010 intensiver um Prävention kümmert? Und werden Priester seltener zu Tätern als andere Männer?
Mit diesen Fragen hat sich ein Forscherteam um den Mannheimer Psychiater Harald Dreßing befasst, der auch Koordinator der im vergangenen Jahr veröffentlichten MHG-Missbrauchsstudie der Bischofskonferenz war.
Das Ergebnis in Kürze: Auch wenn die absolute Zahl der aktuellen Missbrauchsvorwürfe gegen Priester im Vergleich zu früheren Jahren zurückgegangen ist, ist die Quote im Vergleich zur Gesamtzahl der Priester laut Studie seit 2009 nicht signifikant rückläufig, ebenso wenig die Quote bei den entsprechenden Strafanzeigen gegen Geistliche.
Dreßing: Prävention stößt bei Priestern "auf Granit"
Auf Anfrage sagte Dreßing der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), eine mögliche Erklärung sei, dass die Prävention bei einigen Priestern "auf Granit stoße", solange "strukturelle Risikofaktoren" wie klerikale Macht, Zölibat oder kirchliche Sexualmoral unverändert blieben. Auch der Sprecher des Opferverbands Eckiger Tisch, Matthias Katsch, forderte über die Prävention hinaus strukturelle Reformen sowie "eine Art Wahrheitskommission, in der die Zivilgesellschaft unter Beteiligung von Vertretern der Kirche sowie von Betroffenen" die Fälle noch gründlicher aufarbeiten sollte.
Die neue Untersuchung nutzt die Daten der MHG-Studie und vergleicht sie mit der allgemeinen Kriminalstatistik. Konkret geht es um Hinweise auf Missbrauch in den Personalakten von Priestern und Diakonen aus den Jahren 2009 bis 2015. Dabei berücksichtigt die neue Studie nur aktuelle Vorwürfe und Strafanzeigen und keine Beschuldigungen zu Taten aus den Jahren vor 2009. Es geht zudem ausschließlich um Übergriffe gegen Kinder, die zum Tatzeitpunkt jünger als 14 Jahre waren.
Studie nennt keine absoluten Zahlen
Was die Auswertung schwierig macht: Die Studie nennt keine absoluten Zahlen, sondern hochgerechnete Quoten pro 100.000 Personen, um einen Vergleich zur gesamten männlichen Bevölkerung ab 18 Jahren zu ermöglichen.
Dabei kommen die Forscher zu dem Ergebnis, dass die Quote angezeigter Priester in den Jahren 2009 bis 2015 dreimal unter und viermal über der in der Polizeistatistik erfassten Quote ("Tatverdächtigenbelastungszahl") in der männlichen Gesamtbevölkerung gelegen habe.
2015 etwa lag die Quote bei den angezeigten Priestern bei 26,0 pro 100.000, in der Gesamtbevölkerung bei 17,6 pro 100.000. Auch wenn man die methodischen Einschränkungen bei diesem Vergleich berücksichtige, könne man zumindest nicht die Vermutung bestätigen, wonach Priester wegen ihrer besonders moralischen Haltung und Verantwortung seltener zu Tätern würden, so die Forscher.
Was die Entwicklung der Beschuldigungen gegen Priester im Zeitablauf angeht, beginnt die Quote bei 38,8 pro 100.000 im Jahr 2009. (Von 2010 bis 2015: 55,5 - 32,4 - 41,2 - 50,2 - 25,5 - 33,4). Konkret heißt das am Beispiel von 2015: 33,4 beschuldigte Priester pro 100.000 ergibt bei der Gesamtzahl der katholischen Priester in Deutschland im Jahr 2015 von rund 14.000 eine absolute Zahl von 4,7 Neubeschuldigten.
"Niedrig einstellige Zahl von beschuldigten Priestern" pro Jahr
Bei derart geringen Fallzahlen im Bereich der Priester zeigt sich allerdings das Problem, dass schon eine oder zwei Anschuldigungen mehr oder weniger pro Jahr die Quoten gleich deutlich nach oben oder unten gehen lassen. Inwieweit hier tatsächlich ein Trend festzumachen ist, bleibt also fraglich.
"Für alle betrachteten Jahre geht es um eine niedrig einstellige Zahl von beschuldigten Priestern", betonte auch Dreßing: "Das Entscheidende ist aber, dass die Quote nicht kleiner wird." Die neue Untersuchung mache aus seiner Sicht deutlich, dass "sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch katholische Priester ein anhaltendes Problem ist, kein historisches". Die Studienautoren fordern daher, die Präventionsarbeit zu intensivieren - besonders bei Priestern.
Dass dagegen ab 2010 bundesweit kein einziger neuer Vorwurf gegen einen hauptamtlichen Diakon in den Akten verzeichnet sei, könne möglicherweise zurückzuführen sein auf die bei Diakonen "nicht bestehende Verpflichtung zum Zölibat" und auf eine "deutlich geringere Ausstattung mit klerikaler Macht", so die Autoren. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass die Gesamtzahl der hauptamtlichen Diakone noch deutlich kleiner ist als die der Priester - 2015 etwa lag sie bei 1.234.
Auf die Frage nach vergleichbaren Quoten aus den Jahren vor 2009 sagte Dreßing, diese seien nicht zuverlässig zu berechnen. Dies liege vor allem daran, dass es keine verlässlichen Zahlen gebe zur Gesamtzahl der Priester in dieser Zeit. Die Daten aus verschiedenen Quellen unterschieden sich teilweise um bis zu 100 Prozent.
Erzbistum Köln und Bistum Rottenburg Stuttgart können Studie nicht bestätigen
In einer ersten Reaktion wies das Bistum Rottenburg-Stuttgart darauf hin, dass die Entwicklung zumindest im eigenen Bistum anders sei.
Hier sei 2011 und 2014 jeweils ein Priester beschuldigt worden und seitdem keiner mehr.
Für das Erzbistum Köln erklärte der Interventionsbeauftragte Oliver Vogt im Kölner im Interview, auch für die Erzdiözese könne er die Ergebnisse der Studie für aktuelle Vorwürfe im Zeitraum von 2009 bis 2015 nicht bestätigen. Gleichwohl sei aber die Zahl der Missbrauchsvorwürfe insgesamt nicht zurückgegangen.
Diese bezögen sich aber zu 90 Prozent auf Fälle aus früheren Zeiten. Vogt bewertete dies als Wirkung der eingeführten Präventionsmaßnahmen, denn "es gibt eine deutlich erhöhte Sensibilität für die Thematik".
Laut MHG-Studie von 2018 wurden in den kirchlichen Akten der Jahre 1946 bis 2014 Hinweise auf bundesweit 3.677 Betroffene sexueller Übergriffe und auf rund 1.670 beschuldigte Priester, Diakone und Ordensleute gefunden. Vor kurzem kündigte die Kirche an, für den Kampf gegen Missbrauch ein neues Institut zu gründen. Es arbeite mit Wissenschaftlern, Fachorganisationen, Präventionsexperten und Betroffenen von sexualisierter Gewalt zusammen.