Norpoth vermisst bei EKD Lerneffekte nach MHG-Studie

"Weckruf in die Kirche hinein"

Die unabhängige Studie der evangelischen Kirche bestätigt einen mangelhaften Umgang mit dem Themenkomplex Missbrauch. Der DBK-Betroffenensprecher Johannes Norpoth attestiert der evangelischen Kirche noch einen langen Weg.

Johannes Norpoth / © Julia Steinbrecht (KNA)
Johannes Norpoth / © Julia Steinbrecht ( KNA )

DOMRADIO.DE: Sie kämpfen seit Jahren für die Betroffenen von sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche. Waren Sie von den Ergebnissen der Studie zu Missbrauch in der evangelischen Kirche überrascht? 

Johannes Norpoth (Sprecher des Betroffenenbeirates bei der Deutschen Bischofskonferenz): Nein, überhaupt nicht. Ich habe persönlich damit gerechnet, dass es einen deutlichen Sprung der Zahlen nach oben gibt. Das ist genau eingetreten. Eigentlich habe ich auch die Kritik an der Zusammenarbeit erwartet. Ich habe gehofft, dass es nicht so ist, aber manchmal straft die Realität einen dann Lügen. Insofern hat mich auch das am Ende nicht wirklich überrascht. 

Johannes Norpoth

"Hier scheint die evangelische Kirche von den Verantwortungsträgern aus der katholischen Kirche, nämlich wie man es möglichst nicht macht, nichts gelernt zu haben."

DOMRADIO.DE: Die Autoren der Studie kritisieren, dass das Thema viel zu lange nicht ernst genug genommen worden ist. Warum hat man den Betroffenen denn anscheinend so lange nicht oder kaum geglaubt? 

Norpoth: Dafür eine Begründung zu finden, wäre für Betroffenenvertreter, zu denen ich ja auch gehöre, fast ein Sechser im Lotto, weil dieses Verhalten von Verantwortlichen in den Kirchen – das kann man ja jetzt wunderbar sagen "in den Kirchen" – einfach nicht nachvollziehbar ist. Wir wissen nicht, warum am Ende des Tages, egal ob evangelisch oder katholisch, immer nur die Salamitaktik gilt. Ich gebe das zu, was mir bereits nachgewiesen wird. 

Nachdem schon in der katholischen Kirche 2018/2019 die MHG-Studie sehr breit in die Öffentlichkeit gegangen ist und nach dem großen Knall 2010 mit dem Canisius-Kolleg, ist es heute umso weniger nachvollziehbar. Hier scheint die evangelische Kirche von den Verantwortungsträgern aus der katholischen Kirche, nämlich wie man es möglichst nicht macht, nichts gelernt zu haben. 

Johannes Norpoth

"Sexualisierte Gewalt hat unfassbar viel, eigentlich hauptsächlich mit Machtstrukturen, mit klerikalen Machtstrukturen zu tun."

DOMRADIO.DE: Bei der evangelischen Kirche sind oft verheiratete Männer zu Tätern geworden. Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Forderung zum Beispiel nach einer Lockerung des Zölibats und der Sexualmoral innerhalb der katholischen Kirche? 

Norpoth: Das war ja vorher klar. Wer sich mit Missbrauch beschäftigt, der weiß, dass der Zölibat ein Baustein in einem großen Fundament für systemische Probleme und Ursachen sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche ist. Wer das Problem sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche nur auf den Zölibat reduziert, der hat das gesamte Thema tatsächlich noch nicht wirklich verstanden. 

Wenngleich das die ersten Reaktionen waren, die auch aus bekannten konservativen Lagern gerne kommen. Jetzt sei bestätigt, die MHG-Studie oder insbesondere auch Fragen rund um den Synodalen Weg seien hinfällig, denn in der evangelischen Kirche dürfen alle heiraten. Da ist das alles gar kein Problem. 

Sexualisierte Gewalt hat unfassbar viel, eigentlich hauptsächlich mit Machtstrukturen, mit klerikalen Machtstrukturen zu tun. Die gibt es nun mal in der katholischen wie in der evangelischen Kirche. Das ist der Beweis, der jetzt deutlich angetreten wird. 

DOMRADIO.DE: Die 900 Seiten haben Sie natürlich noch nicht komplett durchgelesen, aber wenn Sie jetzt mal die ersten Reaktionen und all das, was in der Presse zu hören und zu lesen war, auf sich wirken lassen, was geht Ihnen dann durch den Kopf? 

Norpoth: Am Ende steht die evangelische Kirche vor sehr großen Herausforderungen. Die Reaktionen und die Art und Weise, wie Kirchenvertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland die Studienergebnisse präsentiert und am Ende auch kommentiert haben, zeigt doch sehr deutlich, dass die EKD und viele Landeskirchen wohl noch vor 2018/2019 stehen, also vor dem Zeitpunkt, in der die katholische Kirche die MHG-Studie veröffentlicht hat. 

Das ist ein bisschen verwunderlich, weil man doch eigentlich denken würde, sie könnten eigentlich von der Schwesterkirche abgucken und sehen, was auf sie zukommen wird. Das wird ein sehr steiniger Weg für die evangelische Kirche. Da bin ich fest von überzeugt, weil noch ganz viele in dieser Kirche von der Notwendigkeit der Aufarbeitung überzeugt werden müssen.

Auch in der katholischen Kirche war diese MHG-Studie nur ein auslösender Faktor, quasi ein Weckruf in die Kirche hinein. Im Übrigen auch den Laien gegenüber. 

Das wird jetzt sicherlich auch in der evangelischen Kirche notwendig sein, nämlich in den Landeskirchen und in den sicherlich nicht so eindeutig strukturierten Einrichtungen und beteiligten Akteuren klarzumachen, dass sie in die individuelle Aufarbeitung müssen, denn sie haben mit diesem Weg erst begonnen. Da ist noch kein Ziel in Sicht und der Weg ist sehr steinig und sehr steil. 

Das kann man nur hoffen und die Erwartung kann man auch nur aus der Sicht von Betroffenen deutlich formulieren. Hier müssen sich die Verantwortungsträger jetzt sehr deutlich zu Aufarbeitung und zu Anerkennung des Leids bekennen, denn ansonsten wird es sehr schwierig werden, überhaupt noch in irgendeiner Art und Weise Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit darstellen zu können. 

Johannes Norpoth

"Am Ende des Tages ist der beschrittene Weg der katholischen Kirche auch noch ein steiniger. Wir sind da mitten drauf."

DOMRADIO.DE: Inwieweit kann die katholische Kirche aus dieser aktuellen evangelischen Studie auch etwas für die eigene Aufarbeitung und Prävention herausziehen? 

Norpoth: Da könnte man jetzt fast lästerhaft sagen, Sie können an dieser Stelle sagen: Guck mal, die machen dieselben Fehler wie wir. Am Ende des Tages ist der beschrittene Weg der katholischen Kirche auch noch ein steiniger. Wir sind da mitten drauf. 

Vielleicht sind wir einen Schritt oder zwei Schritte weiter, indem es eben auf den Diözesanebenen in den Bistümern Aufarbeitungskommissionen gibt und indem es ein bundeseinheitliches System für Anerkennungsleistungen gibt. Die letzten Wochen haben aber sehr deutlich gezeigt, dass diese Themen noch nicht ausdiskutiert sind. Da sind wir alle noch nicht am Ende. 

Die Aufarbeitungskommissionen sind erst mitten in der operativen Arbeit. Da wird noch ganz viel passieren und da muss auch noch ganz viel passieren, um endlich den Zenit in der Verarbeitung und Bearbeitung und Aufarbeitung der Missbrauchskrise in der katholischen Kirche zu überschreiten. 

Ein ausgestreckter Finger mit Blick auf die evangelische Kirche nach dem Motto: Guck mal, die haben dasselbe Problem wie wir, da müssen wir uns jetzt nicht mehr so viel kümmern, ist genau der falsche Weg. Die moralische Fallhöhe in der katholischen Kirche ist immer noch maximal. Das muss man immer berücksichtigen. 

Das Interview führte Dagmar Peters.

Missbrauchsstudie der Evangelischen Kirche

Die Zahl der Missbrauchsopfer in der evangelischen Kirche und Diakonie ist viel höher als bislang angenommen. Laut einer Studie sind seit 1946 in Deutschland nach einer Hochrechnung 9.355 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht worden. Die Zahl der Beschuldigten liegt bei 3.497. Rund ein Drittel davon seien Pfarrpersonen, also Pfarrer oder Vikare. Bislang ging die evangelische Kirche von rund 900 Missbrauchsopfern aus. Die Forum-Studie wurde von einem unabhängigen Forscherteam erarbeitet und in Hannover veröffentlicht.

Gedruckte Ausgaben der Studie zu Missbrauch in der evangelischen Kirche liegen auf einem Tisch / © Sarah Knorr (dpa)
Gedruckte Ausgaben der Studie zu Missbrauch in der evangelischen Kirche liegen auf einem Tisch / © Sarah Knorr ( dpa )
Quelle:
DR