Notfallseelsorger lässt das Zugunglück in Eschede nicht los

Wo war Gott in Eschede?

Die Zugkatastrophe von Eschede vor 25 Jahren hat 101 Menschen das Leben gekostet. Und vielen weiteren das Leben zerstört. Matthias Stalmann hat viele von ihnen begleitet und sich später selbst Hilfe gesucht.

Autor/in:
Clemens Sarholz
Ein ICE passiert die Gedenkstätte für die Opfer des ICE-Unglücks von Eschede / © Julian Stratenschulte (dpa)
Ein ICE passiert die Gedenkstätte für die Opfer des ICE-Unglücks von Eschede / © Julian Stratenschulte ( dpa )

Als die Katastrophe passierte, saß Matthias Stalmann in einer ökumenischen Pfarrkonferenz der katholischen und evangelischen Kirche. Sie hatten sich mit der Rechtfertigungslehre beschäftigt, als jemand hereinkam und sagte, dass es einen Unfall gegeben hätte und sie jetzt Notfallseelsorger suchten. Dann sind sie losgefahren.

Matthias Stalmann (LKH)
Matthias Stalmann / ( LKH )

Die Unwirklichkeit des Unglücks

Auf der Fahrt, sagt Stalmann, hätten sie schon gemerkt, dass es kein normaler Unfall sei. Ein Einsatzfahrzeug nach dem anderen habe sie überholt. Als sie ankamen, sahen sie den aufgetürmten ICE: "Ich konnte nicht glauben, was ich da sehe. Ich habe mich gefragt: Ist das ein Traum? Ist das eine Übung? So ein Quatsch, für eine Übung schrottet man keinen ICE."

Symbolbild Notfallseelsorge / © Harald Oppitz (KNA)
Symbolbild Notfallseelsorge / © Harald Oppitz ( KNA )

Den ersten Feuerwehrmann, den sie gefragt haben, hat sie gleich zu der Brücke geschickt, gegen die der ICE geprallt ist. Dort lagen Leichen aufgereiht. Sie segneten sie aus. "In aller Naivität haben wir ein kurzes Gebet gesprochen." Sie wollten die Toten mit Würde von dieser Welt entlassen. Erst dann haben sie angefangen, sich um die Menschen zu kümmern, die verletzt waren. Und um die Menschen, die unverletzt waren und ihre Angehörigen gesucht haben.

Wirrnis und Unordnung

Ob es auch Glücksgeschichten an so einem Unfallort gibt? Er weiß nicht, ob man sowas sagen kann. Aber an eine Situation erinnert er sich. Stalmann sah eine alte Dame in all dem Chaos sitzen. Sie war, sagt Stalmann, leicht bis gar nicht verletzt, aber total verzweifelt, weil sie ihr Enkelkind gesucht hat. Die genaue Beschreibung des Ortes lässt er aus. Die Frau beschrieb ihr Enkelkind, Größe, Haarfarbe, die Kleidung. "Warten Sie, ich schaue mal." Es hat nicht lange gedauert. Am Pullover hat er ein Kind erkannt, das im Gras saß und gewartet hat. Das Kind habe, sagt er, keine "Transportpriorität" gehabt. Und dann, in all der Wirrnis und der Unordnung des Unfallorts, ging er mit dem Kind zu der Frau zurück: "Schauen Sie, ich hab‘ Ihr Enkelkind gefunden." Kleinigkeiten, sagt er, an denen man sich festhält.

Viele Helfer brauchten Hilfe

Heute weiß er nicht mehr, neben wie vielen Menschen er gesessen hat. Wie viele Menschen er versucht hat zu begleiten. "Die schönen Schühchen, mit denen ich auf der Konferenz war, die waren sehr unpassend." Er erinnert sich noch an die Journalisten, die sich Klebestreifen mit der Aufschrift "Seelsorger" auf die Jacken geklebt haben, um ganz nah dranzukommen. Abgerückt sei er erst, als alle Verletzten abtransportiert waren.

Damals war Stalmann noch kein Pastor, aber schon in der Polizeiseelsorge aktiv. An dem Tag bekam er einen Anruf von der Dienststelle: "Wenn wir Feierabend haben, müssen wir uns nochmal zusammensetzen, dann brauchen wir dich", sagte man zu ihm. In der folgenden Zeit hat sich herausgestellt, dass viele Helfer nicht damit klargekommen sind, nur noch zum Bergen der Leichen am Unfallort gewesen zu sein, nicht mehr um Menschenleben zu retten. Die Bilder im Kopf, der Geruch der Leichen, gingen nicht weg. Schlafstörungen, typische Belastungsreaktionen waren ständige Begleiter vieler Helfer vor Ort.

Damals ohne System 

Ein organisiertes Notfallseelsorgesystem gab es noch nicht. Es sei nicht unbedingt üblich gewesen, sagt Stalmann, unter Anleitung ins Gespräch zu kommen. "Man hat ein Bier getrunken, wenn man einen schlimmen Tag hatte. Wenn man einen sehr schlimmen Tag hatte auch zwei und ein paar Kurze dazu." Mittlerweile sei das anders. Die Notfallseelsorge, wie man sie heute kennt, hat Stalmann mit aufgebaut. "Was ich heute beruflich mache, hat damals seinen Anfang genommen." Er ist Koordinator der Notfallseelsorge der Stadt Hannover, gilt als Spezialist im Bereich Notfallseelsorge und wird für Kongresse und Tagungen immer wieder als Redner angefordert.

Selbst in Beratung

Anfangs war er auch noch regelmäßig bei den Jahrestagen des Unfalls. Irgendwann hat das nachgelassen. Im Laufe der letzten 25 Jahre, hat er immer wieder Leute getroffen, mit denen er durch die Katastrophe zu tun hatte. Gezielt Kontakt gehalten hat er aber nicht. "Und ich glaube, das ist auch gut so." Je mehr er sich mit ihnen auseinandergesetzt hätte, desto schwieriger wäre die emotionale Distanz zu den Erlebnissen gewesen. Aber es kam auch bei ihm die Zeit, da hat er gemerkt, dass er nicht nur für andere da sein kann. "Und dann bin ich selbst in Beratung gegangen."

Ein ICE passiert die Gedenkstätte für die Opfer des ICE-Unglücks von Eschede im Landkreis Celle / © Julian Stratenschulte (dpa)
Ein ICE passiert die Gedenkstätte für die Opfer des ICE-Unglücks von Eschede im Landkreis Celle / © Julian Stratenschulte ( dpa )

So hart wie es klingt, sagt er, er hatte den Vorteil, dass er sich die nächsten zwei Jahre immer wieder mit dem Unglück beschäftigen musste. "So gab es nicht die Gefahr, dass ich darüber ins Schweigen gerate." Eine gute Hilfe, um das zu verarbeiten. Er erzählt von Kollegen und Feuerwehrmännern, die ihre Arbeit nicht mehr ausführen konnten. So weit kam es bei ihm nicht. Hart war es trotzdem.

Ständige Konfrontation 

"Mich hat die ständige Konfrontation mit den Schicksalsschlägen gerissen." Nach dem Tag auf der Unfallstelle arbeitete Stalmann weiter mit den Angehörigen und Hinterbliebenen. Er saß in der Identifizierungskommission. Jeden Tag kamen Menschen aus ganz Deutschland zu ihm und seinen Kollegen, um nach ihren Angehörigen zu suchen. Vielen von ihnen konnte er nur sagen, dass der Mann, die Kinder, die Familie tot ist.

Heute ist er 59 Jahre alt. 1998 hatten er und seine Frau zwei kleine Kinder. Die Angehörigen kamen mit Fotos. Familien bei Ausflügen, Vater, Mutter, zwei Kinder. "Wie unsere eigene Familiensituation." Seiner eigenen Situation sei er sehr dankbar geworden. "Deine Familie ist gesund", hat er sich gedacht, sie hat nicht im Zug gesessen und lebt noch. "101 Tote waren das."

Eigene Worte hat er nicht gehabt

Ein Pastorenkollege von Stalmann hat mal gefragt: "Wo war Gott in Eschede?" Hätte man ihm diese Frage gestellt, hätte er nur eine Antwort darauf: "Der muss ganz dicht bei mir gewesen sein. Ohne dieses Gottvertrauen hätte ich es nicht geschafft das zu überstehen." So, wie er nicht weiß, mit wie vielen Menschen er an dem Tag auf der Unfallstelle gesprochen hat, weiß er heute auch nicht mehr, wie häufig er am 3. Juni 1998 das Vater unser gebetet hat. "Aber ich war so dankbar für dieses Gebet." Eigene Worte, sagt er, habe er nicht gefunden.

Quelle:
DR