300 Zivilisten suchen Schutz in einer Kirche; als eine Granate der FARC einschlägt, sterben 79 von ihnen unter grauenhaften Umständen: Es ist der 2. Mai 2002 im kleinen Ort Bellavista im Verwaltungsbezirk Bojayá, benannt nach einem Nebenfluss des großen Río Atrato, der Lebensader hier im armen Bundesstaat Chocó im Nordwesten Kolumbiens. In der unwegsamen Gegend leben vor allem Afrokolumbianer und Indigene.
Seit Tagen schon liefern sich FARC-Rebellen und paramilitärische Einheiten heftige Gefechte; als sich die Situation zuspitzt, flüchten um die 300 Dorfbewohner ins einzige Steingebäude vor Ort, in die Kirche. Prompt missbrauchen die Paramilitärs die Eingeschlossenen als menschliche Schutzschilder, indem sie sich um das Gotteshaus herum positionieren; die FARC-Kämpfer bringen unterdessen eine selbstgebaute Mörsergranate in Stellung.
Ein Bild des Grauens
"Wir wollten die FARC noch stoppen, haben sie angefleht: "Schießt nicht, in der Kirche sind doch unsere Leute!’", erinnert sich die 66-jährige Bernhardina Vázquez Chavela. Aber die Guerrilleros winkten ab, das Geschoss werde schon nicht drinnen einschlagen. Es kam anders; bis heute hört Bernardina die Schreie von damals, sieht die blutüberströmten Gestalten aus der Kirche taumeln, völlig konfus. "Ich wünsche niemandem auf dieser Welt, so etwas Furchtbares erleben zu müssen!" sagt Bernhardina mit Tränen in den Augen.
Im Inneren bot sich danach ein Bild des Grauens: zerfetzte Körper im Haus Gottes, überall Blut und Leichenteile und dazwischen Schwerstverletzte. Eine von ihnen war Macaria Allin, die mit ihren beiden kleinen Töchtern noch einen ganzen Tag und eine ganze Nacht in der Kirche liegen blieb, bis sie schließlich gerettet wurde. Auch nach all der Zeit fällt es ihr sichtlich schwer, über damals zu sprechen, zu sehr quält die Erinnerung. Wie die anderen Überlebenden auch kann Macaria einfach nicht verstehen, wie absolut unverantwortlich die Konfliktparteien handelten.
Dem deutschen Priester Ulrich Kollwitz geht es genauso. Schon damals war er in der Region im Einsatz, bis heute begleitet er gemeinsam mit der Gemeindereferentin Ursula Holzapfel die Menschen bei der Aufarbeitung des Massakers. Die FARC, erklärt Kollwitz, waren verantwortlich, weil sie ihre Bombe ohne Rücksicht auf Verlust abfeuerten; die Paramilitärs, weil sie sich ausgerechnet bei den in er Kirche eingeschlossenen Menschen verschanzten und schließlich war auch die damalige Regierung verantwortlich, weil sie die eindringlichen Warnungen der Vereinten Nationen, der Kirche und diverser Basisorganisationen ignorierte und nicht rechtzeitig einschritt.
Dass das Dorf Bellavista nach der Katastrophe umgesiedelt und paar Kilometer weiter wieder aufgebaut wurde, war nicht etwa Wille der Bewohner, sondern der korrupter Politiker. Entschädigungszahlungen an die Opfer gab es kaum und auch psychologischen Beistand blieb die Regierung ihnen schuldig. Dagegen bot die Kirche sehr wohl Hilfe zur Traumabewältigung; Ordensfrauen führten intensive Gespräche und auch Ursula Holzapfel hörte als Pastoralpsychologin einfach zu, manchmal stundenlang. Seit 2008 kümmert sie sich mit um die "Kapelle der Opfer" im zuständigen Bischofssitz in Quibdó. Hier erinnern kleine Tafeln mit Kreuzen, Namen und genauen Daten nicht nur an die Ermordeten von Bojayá, aber eben auch an sie.
Zerschossene Kirche heute neu aufgebaut
Die zerschossene Kirche steht heute neu aufgebaut inmitten der Ruinen des alten Dorfes. Dafür, dass sie als Erinnerungsort wieder instand gesetzt wurde, haben sich auch Ulrich Kollwitz, Ursula Holzapfel und ihre Kollegen aus der bischöflichen Kommission für Leben, Gerechtigkeit und Frieden eingesetzt.
Am Ort des Grauens von einst finden heute vor allem Zusammenkünfte verschiedener Opferorganisationen und anderer Basisgruppen der Afro- und der indigenen Gemeinden statt. Zwar haben sie sich schon vor einigen Jahren offiziell die kollektiven Landrechte erstritten, erklärt Ulrich Kollwitz, aber wegen seiner geopolitisch wichtigen Lage bleibt ihr Bundesstaat Chocó und damit die Gegend von Bojayá heiß umkämpftes Terrain. Wegen seiner Nähe zu beiden Ozeanen und zu Panama führen wichtige Schmuggler- und Drogenrouten durchs Gelände und bringen die Bewohner immer wieder neu in die Schusslinie. Immer wieder geraten sie als Zivilisten zwischen die Fronten brutal kämpfender Gruppen – so wie schon damals, am 2. Mai 2002.
Auch der mühsam ausgehandelte Friedensvertrag von 2016 hat daran nichts Grundlegendes geändert, klagt Bernardina Vázquez Chavela. Nein, das Abkommen habe ihnen letztlich nicht genutzt, ganz im Gegenteil. Nach einer Zeit der Ruhe bekämpfen sich jetzt wieder bewaffnete Gruppen, mit dem Unterschied, dass heute keine FARC-Rebellen dabei sind, sondern ELN-Guerrilleros. "Die sind noch unberechenbarer!"