Aus Angst vor einem möglichen Polizeieinsatz im jahrhundertealten Höhlenkloster in Kiew haben schon mindestens zehn Mönche die Flucht ergriffen. "Die meisten, noch 150, sind geblieben und wollen nicht gehen", sagt Priester Polykarp Lynenko.
Er lebt schon seit mehr als drei Jahrzehnten in der Petscherska Lawra, wie das Kloster auf Ukrainisch heißt. "Ich verurteile Russland dafür, dass es mein Land überfallen hat und uns tötet."
Der 52-Jährige hält die Gemeinschaft heute zusammen, seit der Metropolit Pawlo Lebid als höchster Würdenträger der ukrainisch-orthodoxen Kirche mit Fußfesseln im Hausarrest sitzt. Viele sprechen von einem politischen Verfahren.
Vorwurf des Landesverrats und der Kollaboration
Kiews Justiz wirft dem Abt Pawlo Landesverrat und Kollaboration mit Moskaus russisch-orthodoxer Kirche und deren Patriarch Kirill vor. Der Geistliche soll in abgehörten Telefonaten Russlands Angriffskrieg gerechtfertigt haben.
Dagegen betont Vater Polykarp, dass sich seine Kirche nach Kriegsbeginn offiziell vom Moskauer Patriarchat losgesagt habe. Er nennt Präsident Wladimir Putin und den kremltreuen Patriarchen, die beide selbst noch vor zehn Jahren in Kiew 1025 Jahre Christianisierung feierten, Kriegsverbrecher.
Vom Glauben ablassen will er deshalb aber nicht. "Das Leben hier im Kloster und die Zugehörigkeit zu dieser Kirche verhindern nicht, dass ich ein Patriot der Ukraine bin", sagt der Mönch. "Ich fühle mich beleidigt, wenn sie mich einen Moskauer Popen oder Verräter meines Heimatlandes Ukraine nennen."
Seit Monaten schon gehen die ukrainischen Behörden gegen die Mönche vor. Präsident Wolodymyr Selenskyj sieht die Kirche von moskautreuen Spionen durchsetzt. Er will die Mönche aus dem für orthodoxe Christen wichtigen Heiligtum hinauswerfen.
Die Mönche weichen nicht
Die berühmte Pilgerstätte am Fluss Dnipro steht als Weltkulturerbe unter dem Schutz der Unesco und ist offiziell ein Museum. Übergeben werden soll die Anlage, deren Ursprünge bis ins 11. Jahrhundert zurückgehen, nun an die noch junge Orthodoxe Kirche der Ukraine.
Aber die Mönche weichen nicht. Sie warnen vor politischer Verfolgung wie in der Vergangenheit unter den Kommunisten in der Sowjetunion.
Und sie kämpfen vor Gericht dagegen, dass ihre Mietverträge teils aufgekündigt, teils nicht verlängert wurden.
Ihre Kirchenfürsten beklagen seit Monaten gewaltsame Übergriffe und vor allem erniedrigende Razzien durch den ukrainischen Geheimdienst SBU.
Eigener kleiner Konfliktherd
An diesem Sommertag leuchten die vergoldeten Kuppeln trotz der dicken Wolken über der weitläufigen Anlage. Die neue Museumsdirektion will das historische Plateau von allem Russischen säubern.
Polizisten patrouillieren vor den Eingängen des Klosters oder sitzen in Streifenwagen. Es gibt Personenkontrollen. Das Kloster ist so etwas wie ein eigener kleiner Konfliktherd in diesem großen Krieg.
Touristen kommen kaum noch zu der weltberühmten Sehenswürdigkeit, die in einem verzweigten unterirdischen Höhlensystem auch mumifizierte Überreste von Geistlichen beherbergt. Beschäftigte des Museums sprechen hinter vorgehaltener Hand von einem Klima der Angst, einer "Hexenjagd". Gläubige in Kapellen beten, dass ihnen der heilige Ort als Halt im Krieg nicht entrissen wird.
Verbot der "alten" orthodoxen Kirche?
Doch eine Mehrheit der Ukrainer spricht sich laut Umfragen inzwischen für ein Verbot der "alten" orthodoxen Kirche aus. "Wir erleben gerade historische Prozesse", sagt Vater Polykarp. Er meint, nicht die Kirche sei das Problem, sondern Russland. Er räumt aber auch ein, dass es einzelne, teils auch ranghohe Vertreter gebe, die eine Lossagung vom Moskauer Patriarchat ablehnten.
Aber eine Auslöschung der Kirche sei auch keine Lösung, sagt der Geistliche. Er führt immer wieder Trauerzeremonien für die Kriegstoten. Viele Soldaten seien Mitglieder dieser ukrainisch-orthodoxe Kirche. Sie kämpften für ein Überleben der Ukraine.
"Mir ist es ein Rätsel, dass Russland, das uns für ein Brudervolk hält, uns überfallen hat", sagt Vater Polykarp, der selbst schon seit Jahren nicht mehr Russisch, sondern Ukrainisch spricht. "Ich bete für Selenskyj, für mein Land und unser Volk."
Neue Kirche für eigenständig erklärt
Viele Christen haben sich aus Protest gegen die lange Zeit engen Verbindungen zum Moskauer Patriarchat abgewendet und 2018 in der neuen orthodoxen Kirche der Ukraine eine Heimat gefunden.
Anfang 2019 erklärte Patriarch Bartholomäus I. von Konstantinopel (Istanbul) zum Ärger Russlands die neue Kirche per Bulle (Tomos) für eigenständig. Schon seit langem toben um Gotteshäuser und Klöster auch Eigentumsstreitigkeiten der Kirchen.
Der Moskauer Patriarch Kirill steht auch deshalb als Kriegstreiber in der Kritik, weil er den Verlust weiterer Heiligtümer mit Gewalt verhindern will.
Das Patriarchat verleibte sich gegen den Willen Kiews Gemeinden auf der Halbinsel Krim und im Donbass ein, die zur ukrainisch-orthodoxen Kirche gehören.
Sachen an sicheren Ort bringen lassen
Mönch Polykarp erzählt inmitten duftender Rosengärten und Weinreben, hier und da stehen auch Bienenstöcke für die klostereigene Honigproduktion, dass er selbst schon Bücher und Ikonen weggebracht habe für den Fall einer Räumung des Klosters. "Seit März schlafe ich auf einer Matratze auf dem Boden. Das Bett und andere Möbel habe ich einem ehemaligen Gefängnisinsassen überlassen."
Auch Kleidung, Gesangsbücher und Noten für die traditionellen Kirchengesänge hätten die Mönche an einen sicheren Ort bringen lassen.
"Das für uns zuständige Kulturministerium setzt immer wieder Fristen, bis wann wir gehen sollen. Aber dann passiert nichts."
Niemand im Kloster reagiere mehr auf die Dokumente der Behörden. "Wir beten, leben unsere brüderliche Gemeinschaft und dienen Gott."
Schlimme Repressionen im Kommunismus
Diese Kirche habe in ihrer Geschichte schlimmste Repressionen in der kommunistischen Diktatur und andere schweren Zeiten überlebt, sagt Vater Polykarp.
Auch wegen der langen Tradition gebe er nicht einfach auf – oder wechsele in die politisch unterstützte neue Orthodoxe Kirche der Ukraine. "Meine Heimat ist hier." Der Mönch weiß, dass ein Polizeieinsatz kommen kann, bei dem sie vertrieben werden.
"Bis dahin werde ich mein Leben als Mönch leben und hierbleiben, das habe ich Gott und mir selbst geschworen – am liebsten bis zu meinem Tod."