Palliativmediziner über die vielen Gesichter des Todes

"Jeder Mensch stirbt anders"

Kardinal Lehmann schwinden die Kräfte. Benedikt XVI. betet für eine gute Sterbestunde. Bei der Vorbereitung auf den letzten Gang hat der Palliativmediziner Dirk Hennesser bereits viele Menschen begleitet. Er weiß, was beim Sterben geschieht.

Symbolbild Sterbebegleitung / © Harald Oppitz (KNA)
Symbolbild Sterbebegleitung / © Harald Oppitz ( KNA )

DOMRADIO.DE: Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf hat zum Gebet für seinen Vorgänger Karl Kardinal Lehmann aufgerufen, dem nach einem Schlaganfall die Kräfte schwinden. Und auch der emeritierte Papst Benedikt betet für eine gute Sterbestunde, hieß es erst kürzlich in den Medien. Wie sind Ihre Erfahrungen als Mediziner dazu? Hilft beten?

Dr. Dirk Hennesser (Hämato-Onkologe und Palliativmediziner): Auch wenn ich zuallererst als Arzt dem Erhalt von Leben verpflichtet bin, habe ich schon sehr vielen Menschen auf dem Weg zum Sterben geholfen – und zwar mit den segensreichen Möglichkeiten der Palliativmedizin, die wörtlich ja meint, dass Schmerzen und körperliches Leiden "gemildert" werden können. Als Katholik muss ich sagen: Natürlich ist das Erbitten einer guten Sterbestunde etwas Sinnvolles. Wir alle knüpfen doch an ein Gebet die Hoffnung, erhört zu werden und – in diesem besonderen Fall – friedlich von der einen Lebenswirklichkeit in die andere übergehen zu können.

Und wenn Sie danach fragen, ob Sterbende wirklich einen erlösenden und gelösten Moment erleben, wenn ihr Leben auf einer Palliativ- und Hospizstation endet, dann kann ich das aus meiner Erfahrung nur bejahen. Hinzu kommt, dass bei einer palliativen Betreuung gemeinsam mit einem qualifizierten Pflegeteam ja nicht nur auf Fachkenntnis zurückgegriffen wird, sondern auch die menschliche Fürsorge und Zugewandtheit in der letzten Lebensphase eine große Rolle spielen.

Niemand muss mehr alleine sterben, geschweige denn qualvoll. In der Hospizbewegung akzeptieren wir, dass Sterben zum Leben gehört. Als gläubiger Mensch ist Papst Benedikt da vielen voraus. Denn meines Erachtens hat er diese Gewissheit verinnerlicht, wenn er sich allmählich auf einen Abschied vom Leben vorbereitet und das auch artikuliert.

DOMRADIO.DE: Stoßen Sie am Ende des Lebens mit dem medizinisch Machbaren nicht mitunter auch an ethische Grenzen?

Hennesser: Oft sogar. Denn nicht alles, was durch die moderne Apparatemedizin möglich geworden ist und Leben verlängert, ist dem Patienten in der finalen Phase seiner Erkrankung auch zumutbar oder wird von ihm gewollt. Immer wieder kommt es zu Situationen, in denen es eine klare Handlungsorientierung geben muss, am besten durch frühere Gespräche mit dem Patienten oder seinem Umfeld, um seinen mutmaßlichen Willen in einer konkreten Situation zu kennen und danach zu handeln. Manchmal müssen umgehend Entscheidungen getroffen werden, wenn es um Reanimation geht oder auch lebensverlängernde Maßnahmen, die routinemäßigem Standard entsprechen, den Leidensweg eines Menschen unter Umständen aber nur sinnlos verlängern.

Um hier eine tragfähige Lösung vor allem für den Betroffenen selbst, aber auch seine Angehörigen zu finden, sind Überlegungen und Gespräche mit allen Beteiligten im Vorfeld dieser finalen Phase für jedes Klinikpersonal äußerst hilfreich. Aber selbst wenn dieser Moment unangekündigt kommt und keine Gespräche zuvor stattgefunden haben, gilt es, den mutmaßlichen Willen des Patienten zu ermitteln. Denn der steht im Zentrum.

Die Selbstbestimmung ist ein wesentlicher Baustein der Palliativmedizin. Trotzdem ist Aufklärung sehr wichtig. Wer will letztlich darüber entscheiden, wann ein Leben noch lebenswert ist und wann nicht mehr? Wer will hier die Grenze ziehen? Selbst Demenz-Patienten können eine hohe Lebensqualität haben, auch wenn sie in ihrer eigenen Welt leben. Und wenn Patienten mit dem Wunsch nach einer assistierten Selbsttötung zu mir kommen, fühle ich mich erst recht zu einer Alternative herausgefordert.

DOMRADIO.DE: Sterben wird nicht selten mit einer großen Angst vor Schmerzen, qualvollem Ersticken oder auch Verlust der Persönlichkeit assoziiert. Ist diese Angst berechtigt?

Hennesser: Diese Ängste kenne ich von meinen Patienten nur allzu gut. Aber niemand stirbt heute noch mit unerträglichen Schmerzen oder erleidet einen Erstickungstod. Persönlichkeitsverlust ist sicher ein berechtigtes Argument. Andererseits dürfte dann auch niemand alt werden wollen und in das risikoreiche Alter eines Schlaganfalls kommen. Das scheint mir ein verdammt kommerzialisiertes Problem geworden zu sein. Dabei kann auch ein Leben mit Krankheit sinnerfüllt sein.

Lebensqualität misst sich nicht nur an der Tatsache, ob man gesund oder krank und Letzteres womöglich in fortgeschrittenem Stadium ist. Es bleibt oft noch eine Zeitspanne, in der – wenn man es positiv sieht – das Leben auch noch gestaltet werden kann. Im Wissen und Vertrauen auf die vielen Möglichkeiten der Palliativmedizin würde sich für manchen Menschen beispielsweise der Gedanke an Sterbehilfe gar nicht stellen. Wenn wir uns in Talkshows und auf politischer Bühne so sehr um das sogenannte Wohl kranker Menschen kümmern, dann verstehe ich darunter den Auftrag, hier Betreuungsmöglichkeiten zu erweitern und die Menschen darüber aufzuklären, aber nicht, ihnen ein letztes Glas anzureichen.

DOMRADIO.DE: Oft begleiten Sie Ihre Patienten viele Jahre bei einer Tumortherapie und lernen sie in dieser Zeit gut kennen. Wann ist der richtige Zeitpunkt, das Thema Sterben anzusprechen?

Hennesser: Ganz wichtig ist, diesen Punkt rechtzeitig anzusprechen. Viele wissen schon lange Bescheid und sind sich über die Ernsthaftigkeit ihrer Situation längst im Klaren. Meistens sind die Angehörigen geschockter als der Betroffene selbst und brauchen Zeit, die Nachricht zu verarbeiten. Denn nach einer Diagnosestellung, die einem solchen Gespräch über Sterben und Tod ja schon lange vorausgegangen ist, gibt es – das ist wissenschaftlich belegt –  unterschiedliche Phasen, die die meisten der Patienten durchlaufen. Das beginnt mit einem "Nicht-wahr-haben-Wollen", also der Verdrängung und Annahme einer Verwechslung, bei der oft auch die Diagnose infrage gestellt wird.

In einem zweiten Schritt wird daraus Zorn: Warum muss es gerade mich treffen? In der dritten Phase "verhandeln" die Patienten meist um mehr Lebenszeit und "feilschen" mit den Ärzten um andere hilfreichere Therapien und Medikamente. Da wird das Schicksal oder Gott zu einem "(Handels-)Partner" im Kampf des Sterbenden. Punkt vier ist dann die Depression: Der Patient trauert um Partner, Kinder und Freunde und setzt sich mit der Realität des Todes auseinander, indem er beispielsweise auch ein Testament macht.

Dieser Rückzug kann für die Angehörigen zwar sehr schmerzlich sein, ist aber ein Zeichen dafür, dass es dem Patienten gelingt, sich von seinen Bindungen zu lösen und die Dinge der Welt hinter sich zu lassen. In der fünften und letzten Phase haben die meisten dann Frieden mit der Welt gefunden. Gefühle flachen ab, und sie werden müde und schwach. Mir ist in der ärztlichen Begleitung in allen diesen Phasen Wahrhaftigkeit ganz wichtig. Ich muss nicht alles sagen, aber alles, was ich in solchen Situationen zu einem Patienten oder seiner Familie sage, muss wahr sein. Das hat mit Ernstnehmen des Anderen zu tun und auch mit meiner eigenen Glaubwürdigkeit.

DOMRADIO.DE: Wenn es ums Sterben geht, machen sich die Menschen sehr unterschiedliche Phantasien davon. Oft wird der sogenannte "Todeskampf" befürchtet. Was geschieht wirklich beim Sterben?

Hennesser: Einen Todeskampf gibt es heute nicht mehr. Mit einer effektiven Schmerztherapie und Palliativmedizin können wir einem Sterbenden seine Angst nehmen und Symptome lindern. Aber das ist auch die Phase, in der wir sorgfältig abwägen, wie sinnvoll manche lebenserhaltende Maßnahme noch ist. Immer geht es darum, die Autonomie des Patienten zu respektieren. Das ist das höchste Gut, an dem wir uns immer orientieren. Aber man kann auch im letzten Moment – gerade wenn der Patient nicht mehr bei Bewusstsein ist – darauf verzichten, für weitere Stunden oder wenige Tage Lebenszeit noch einmal eine Therapie zu veranlassen, die nur einen minimalen Aufschub gewährt.

Dieser Aspekt kommt mir oft viel zu kurz. Denn schließlich fragen wir uns ganz bewusst jederzeit: Wie weit sollen wir gehen? An welcher Schnittstelle ist genau dieser Verzicht angesagt? Beispielsweise reanimieren wir nicht mehr, wenn der natürliche Sterbeprozess bereits eingesetzt hat. Hier lassen uns der Gesetzgeber und die Ärztekammer einen großen Spielraum. Am Ende geht es nicht um Unterlassung, sondern um Verzicht. Denn zu diesem Zeitpunkt hat sich der Organismus bereits umprogrammiert: Es geht nicht mehr um Aufbau und Erhaltung, sondern um Abbau.

Das heißt, das Gehirn schüttet Botenstoffe – Endorphine, Glückshormone - aus, die Hunger und Durst abstellen. Das Blut zieht sich zurück. Es kommt zu einer Zentralisierung des Kreislaufs in Lunge, Herz und Gehirn, was sich in kalten Händen und Füßen äußert. Der Puls wird schwächer und schneller, die Nägel verfärben sich und werden bläulich. An den Füßen und Unterschenkeln lagert sich gesammeltes Blut ab und führt zu charakteristischen Flecken. Magen und Darm werden still gelegt, die Nieren nicht mehr durchblutet. Die Urinproduktion stellt sich von selbst ein. Stoffwechselreste verbleiben im Blut, die Hirnfunktion wird betäubt, und schließlich wird der Patient bewusstlos. Glauben Sie mir, mitunter ist es der schwerere Weg für uns Ärzte, das Nicht-Handeln zu rechtfertigen, als nach Lehrbuchschema vorzugehen.

DOMRADIO.DE: Ihre Schilderungen hören sich nach einem friedlichen Sterbeprozess an. Aber ist das wirklich immer so? Und woher kommt dann bei vielen die Angst?

Hennesser: Natürlich kann es im Endstadium zu einer Rasselatmung kommen. Diese wirkt auf Angehörige oft befremdlich und verursacht Ängste: durch die fehlende Fähigkeit abzuhusten und durch vermehrte Schleimproduktion. Dann ist die Aufklärung der Angehörigen, die das oft beobachten und sich sorgen, sehr wichtig: nämlich dass Absaugen zwecklos ist und nur eine Belastung für den Patienten bedeuten würde, dass immer noch genug Luftaustausch stattfindet beim Einatmen, dass Medikamente keine Abhilfe schaffen und der Patient nicht leidet. Oder es kommt zu einer Schnappatmung. Sie ist ein Zeichen dafür, dass das Herz nicht mehr schlägt. Das Gehirn gerät in Luftnot und versucht, sich mehr Sauerstoff zu verschaffen. Schließlich kommt es zu Herzstillstand und Tod, wenn die Sauerstoffversorgung des Körpers zusammenbricht und die Organe, inklusive Gehirn, nicht mehr versorgt werden. Dann setzt schließlich nach acht bis zehn Minuten auch das Gehirn aus, und der Tod tritt ein.

DOMRADIO.DE: Was glauben Sie, wie der Sterbende das empfindet?

Hennesser: Bei manchen Patienten lässt sich eine gewisse Unruhe konstatieren. Sie zupfen am Bettuch, machen fahrige Bewegungen mit Armen und Beinen oder greifen mit den Händen in die Luft. Erfahrungsgemäß beruhigt es sie dann, einen Menschen an der Seite zu wissen – durch Berühren und ruhiges Ansprechen – und die Gewissheit zu haben, beim Sterben nicht allein zu sein. Ihr Rückzug und das damit einhergehende Ruhebedürfnis äußern sich in viel Schlaf und Kraftlosigkeit. Sie verlieren spürbar das Interesse an ihrer Umwelt. Die Stimme wird brüchiger. Selbst im Wachzustand halten sie die Augen geschlossen, weil sie zu geschwächt sind, sie zu öffnen.

Doch das Hörvermögen ist meistens intakt. Dann wirkt auf den Patienten beruhigend ein, wenn ihm vom Alltag erzählt, etwas vorgelesen wird oder eine schöne Musik läuft. Beim Erwachen erkennen Sterbende die Umgebung nicht sofort, sie sprechen möglicherweise über Unbekannte oder Bekannte, die bereits verstorben sind. Wenn der Patient kaum noch Reserven hat, sich zu artikulieren, ist es wichtig, auf seine Lippenbewegungen zu achten, ganz nah mit dem Ohr an seinen Mund zu gehen, unter Umständen für "Ja" und "Nein" Zeichen zu vereinbaren, wie beispielsweise einen Händedruck. Dann tut es ihm gut, ihn nicht aus seiner Welt zu reißen, sondern zuzuhören und auf seine Vorstellungen einzugehen. Wenn sich das Bewusstsein des Patienten zurückzieht, führt der Versuch, die Wahrnehmung des Kranken zu "berichtigen", zu großer Unruhe, was aber keinen Einfluss auf seine veränderte Wahrnehmungsfähigkeit hat. Noch ein Aspekt beim nahenden Sterben ist die Mundtrockenheit. Das Atmen durch den Mund trocknet die Schleimhäute aus. Eine gezielte Mundpflege, indem immer wieder die Lippen befeuchtet werden, bringt ebenfalls Linderung.

Selten gibt es aber auch das nochmalige Aufblühen kurz vor dem Tod. Dann sind die Patienten orientiert, wollen aufstehen und artikulieren den Wunsch nach einem Besuch bestimmter Menschen. Das aber ist nur ein vorübergehendes Phänomen, das zwar vielen Angehörigen Hoffnung macht, aber den Sterbeprozess dennoch nicht aufhält.

DOMRADIO.DE: So unterschiedlich die Menschen sind, so individuell ist auch der Tod?

Hennesser: Ja, unbedingt. Jeder Mensch stirbt anders, und doch sind die letzten 24 bis 48 Stunden bei vielen Patienten ähnlich. Was es aber auf keinen Fall gibt, ist ein Todeskampf, Schreien, Erbrechen oder Ersticken und auch kein Um-sich-Schlagen, was viele irrtümlich meinen. Und: Bis zum letzten Atemzug bleibt unkalkulierbar, wie viel Zeit wirklich noch bleibt. Oft genug haben wir auf Station erlebt: Der Tod liebt die Überraschung. Und wir sind keine Hellseher. Oft ist absehbar, wie die letzten 48 bis 72 Stunden verlaufen. Dann wirken die Augen eines Patienten eingefallen und tiefer; der Blick ist in die Weite gerichtet. Der Mund steht offen, weil die Muskulatur schlaffer wird, die Gesichtsfarbe gräulicher und die Haut marmoriert. Der Puls wird schwächer, und die Atempausen werden länger. Aber wann es dann wirklich soweit ist, weiß nur der liebe Gott. Und manchmal ist es auch gut, nicht alles zu wissen.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti


Dr. Dirk Hennesser / © Beatrice Tomasetti (DR)
Dr. Dirk Hennesser / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR