Die neue Erklärung Dignatis infinita des Glaubensdikasteriums – ein Paradigmenwechsel?!
I.
Am 8. April 2024 hat der Präfekt des Dikasteriums für die Glaubenslehre, Victor Manuel Kardinal Fernández, die Erklärung Dignitas infinita über die menschliche Würde (DI) veröffentlicht, die im Jahr 2019 unter seinem Vorgänger begonnen und dann von Präfekt Fernandes zum Abschluss gebracht wurde. Die mit einem Umfang von insgesamt 66 Abschnitten recht lange Erklärung wurde am 25. März 2024 von Papst Franziskus approbiert. Wie bei der Erklärung Fiducia supplicans (2023) hat auch diesmal Kardinal Fernández bei der Vorstellung von Dignitas infinita die Entstehungsgeschichte der Erklärung skizziert und damit seine Absicht fortgesetzt, für mehr Transparenz bei der Genese des Textes zu sorgen.
Trotz einer gewissen zeitlichen Verzögerung sieht sich dieses Dokument im direkten Zusammenhang mit dem 75. Jahrestag der Deklaration der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde (DI 2). Wie der Titel Dignitas infinita, wörtlich: unendliche Würde, sagt, geht es um die menschliche Würde, also darum, was das kirchliche Lehramt unter Würde versteht und welche normativen Schlussfolgerungen daraus abgeleitet werden können.
Schon seit mehreren Monaten gab es Andeutungen und Spekulationen darüber, dass ein solches Dokument erscheinen würde, nachdem bereits vor wenigen Jahren Gerüchte kursierten, der Papst würde eine Enzyklika vorbereiten und darin sexualmoralische und bioethische Fragen sowie die Gender-Thematik behandeln. Während sich hinsichtlich des einen oder anderen Themas wie der verantworteten Elternschaft, insbesondere der sogenannten künstlichen Empfängnisverhütung, durchaus Hoffnung breitmachte, gab es hingegen auch Befürchtungen, dass das Thema Gender sich weiter verkanten und die betreffenden Personen erneut Ausgrenzungserfahrungen machen müssten.
II.
Spätestens mit dem Schreiben des Glaubensdikasteriums Fiducia supplicans, das kurz vor Weihnachten 2023 erschien und die Segnung von nicht-verheirateten und wiederverheiratet geschiedenen Paaren sowie gleichgeschlechtlichen Partnerschaften – auf der Grundlage eines vertieften lehramtlichen Verständnisses von Segnungen – aus pastoralen Gründen für legitim erklärte, kamen jedoch die weltkirchlichen Spannungen massiv zum Vorschein: Verschiedene Bischofskonferenzen insbesondere in der sogenannten westlichen Welt begrüßten die Erklärung und würdigten die Möglichkeit einer Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften als einen Schritt in die richtige Richtung, andere hingegen, insbesondere die afrikanischen Bischofskonferenzen, brachten dagegen sehr entschieden zum Ausdruck, dass in ihren kulturellen Kontexten eine solche Segnung nicht möglich sei. Die Differenzen, die sich auf der Ebene der Bischofskonferenzen beobachten lassen, wurden im innerkirchlichen Diskurs von verschiedenen Akteuren zum Teil so polemisch ausgetragen, dass selbst kirchlichen Würdeträgern die Orthodoxie abgesprochen wurde. Entgegen der ursprünglichen Intention von Fiducia supplicans sah sich der Präfekt des Glaubensdikasteriums sogar zu mehrmaligen klärenden Äußerungen veranlasst.
Diese Konstellation hat man sich vor Augen zu führen, wenn man die Erklärung Dignitas infinita einer theologischen Einordnung unterzieht, um dessen theologische Zielrichtung und Weiterentwicklungen herauszuarbeiten. Dass die Entstehung des Dokumentes mehrere Jahre in Anspruch genommen hat und bis zuletzt, noch Anfang des Jahres 2024 erhebliche Veränderungen erfahren hat, wie Kardinal Fernández in der Präsentation offenlegt, lässt erahnen, vor welchen Herausforderung dessen Genese stand.
III.
Die Erklärung Dignitas infinita ist nach einer Einleitung in vier Abschnitte gegliedert. Während die ersten drei Abschnitte eine Grundlegung der ethischen und moraltheologischen Bedeutung des Konzepts der Menschenwürde leisten, behandelt der vierte Abschnitt "einige konkrete und schwerwiegende Verletzungen dieser Würde […] in unserer Zeit" (DI 33). Mit der Unterscheidung zwischen Grundlegung und Anwendung bildet die Erklärung eine Struktur, die parallel zu den beiden Hauptteilen der Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanums aufgebaut ist.
Die Bedeutung der menschlichen Würde und deren Anerkennung hat Papst Franziskus bereits in seiner Enzyklika Fratelli tutti (FT) im Jahr 2020 hervorgehoben, die die Erklärung Dignitas infinita als "eine Art Magna Charta der heutigen Aufgaben zur Wahrung und Förderung der Menschenwürde" (DI 6) würdigt. Dignitas infinita liefert nun eine theologische Vertiefung des zugrundeliegenden Würdeverständnisses. Der Erklärung geht es um die Würde als universelle Wahrheit (DI Präsentation), die individual-, sozial- und umweltethisch zu konkretisieren ist, um daraus moralische Konsequenzen zu ziehen. Die systematische Ausdifferenzierung des Würdekonzepts, wie sie in Dignitas infinita erfolgt, stellt für die kirchliche Lehrverkündigung ein Novum dar.
Dem Menschen kommt als Menschen von Beginn an – unabhängig von jeglichen Eigenschaften, Zuständen oder Umständen – "eine gleiche unantastbare Würde" (DI 6) zu. Diese unveräußerliche, unendliche Würde wird als "ontologische Würde" (DI 1) bezeichnet. Sie ist kraft der Vernunft ganz erkennbar und wird durch die Offenbarung "bekräftigt und bestätigt" (DI 1). Dieses objektive Würdeverständnis verweist darauf, dass die menschliche Würde darin liegt, dass jeder Mensch "von Gott gewollt, geschaffen und geliebt ist" (DI 7).
Als so von Gott geschaffener, geliebter und erlöster Mensch kann der Einzelne seine Freiheit auf unterschiedliche Weise verwirklichen. Dies wird als sittliche Würde bezeichnet. Der Mensch kann seine Freiheit so gestalten, dass er auch gegen sein Gewissen handelt und er "seiner Natur als von Gott geliebtes und zur Liebe zu seinen Brüdern und Schwestern berufenes Geschöpf ‚unwürdig ist‘" (DI 7). Während der Mensch seine ontologische Würde niemals verliert, kann er sich jedoch durch sein Verhalten moralisch diskreditieren, sodass seine sittliche Würde gleichsam verloren gehen kann.
Im Gegensatz zur ontologischen und sittlichen Würde sind die Aspekte der sozialen und existenziellen Würde analog zu verstehen. Denn die soziale Würde bezieht sich auf die äußeren Lebensbedingungen und Lebensumstände, die Menschen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen oder beeinträchtigen. Mit der Rede von der existenziellen Würde wird auf Situationen Bezug genommen, in denen ein Mensch zwar über das Lebensnotwendige verfügt, aber existenziell sehr beeinträchtigt ist und seine Situation als unwürdig erlebt, etwa durch schwere Krankheit, Gewalt in der Familie oder Abhängigkeiten (DI 8).
Die Erklärung verweist dann darauf, dass die Menschenwürde die Grundlage der Menschenrechte und Menschenpflichten ist. Daher ist die Würde des Menschen unter allen Umständen, in jeder Situation und unabhängig von allen kulturellen Unterschieden unbedingt zu achten. (DI 24) Die moralische Bewertung menschlicher Freiheit hat sich daran zu bemessen, wie sie diese Würde achtet und ihr entspricht. (DI 25) Dabei ist der anthropologischen Struktur des Menschen als Vernunftnatur als ethisch relevanter Maßstab Rechnung zu tragen. Die Vernunftnatur des Menschen bezeichnet das Vermögen und die Realisierungsbedingungen menschlichen Handelns, seiner Kultivierung und Entwicklung (DI 9). Sie entziehen sich der menschlichen Möglichkeit, seine Natur selbst zu erschaffen. Er findet sich darin vor und steht vor der unausweichlichen Aufgabe, diese zu gestalten.
Im Gegensatz zu einem isolierten Verständnis ist der Menschen dabei immer als Beziehungswesen zu achten, der als soziales Wesen auch in Beziehung zu den nichtmenschlichen Geschöpfen und zur Schöpfung steht. (DI 26) Aufgrund der faktischen Lebensbedingungen ist der Mensch ferner von allen sozialen, wirtschaftlichen politischen oder ideologischen Zwängen zur Freiheit zu befreien (DI 31).
Mit Dignitas infinita wird ein in der christlichen Anthropologie fundiertes christliches Menschenwürdeethos formuliert, das sich dem Anspruch der Menschenrecht verpflichtet weiß, ohne sich dabei der Möglichkeit zu berauben, das sogar den Anspruch erhebt, aus Sicht des kirchlichen Lehramts eine Überdehnung oder missbräuchliche Ausweitung von Rechtsforderungen in der Gegenwart zu kritisieren (DI 25).
IV.
Der vierte und letzte Teil von Dignitas infinita behandelt schwerwiegende Verletzungen der Menschenwürde, die gegenwärtig von besonderer Dringlichkeit sind. Mit Bezugnahme auf Fratelli tutti (FT 107) bekräftigt Dignitas infinita die Wahrung der Menschenwürde als elementares Prinzip für die Zukunft und das Überleben der Menschheit (DI 33). Im Rückgriff auf die Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils (GS 27) fallen all jene Handlungen unter die Verletzung der Menschenwürde, die "zum Leben selbst in Gegensatz" stehen, die "die Unantastbarkeit der menschlichen Person" verletzen oder die "die menschliche Würde" angreifen (DI 34 mit Verweisen auf GS 27).
In diesem Anwendungsteil werden sozialethische Themen (Armut, Krieg, Migration, Menschenhandel, Gewalt in der digitalen Welt, Gewalt gegen Frauen, Femizide und Exklusion von Menschen mit Behinderung oder Gebrechen), lebensethische Themen (Todesstrafe, Folter oder der Umgang mit Gefangenen), das Thema des sexuellen Missbrauchs, aktuelle bio- und medizinethische Herausforderungen (Abtreibung, Leihmutterschaft, Euthanasie und assistierter Suizid) sowie die Gender-Thematik und Geschlechtsumwandlung behandelt. Dieses Themenspektrum verdeutlicht das Anliegen von Dignitas infinita, mit Bezugnahme auf die Menschenwürde normative Aussagen der kirchlichen Moral- und Soziallehre zu fundieren und gegenwärtige Herausforderungen zu wiederholen bzw. zu aktualisieren. Dabei werden bekannte Positionen mehr oder weniger in Erinnerung gerufen, die Papst Franziskus bereits in früheren Dokumenten formuliert hat.
Mit einer Hermeneutik der Erklärung Dignitas infinita, die den kirchenpolitischen und lehramtlichen Kontext berücksichtigt, lassen sich im Anwendungsteil Nuancierungen entdecken, die es wert sind, hervorzuheben: Bemerkenswert ist, dass Papst Franziskus sich in seinen Einlassungen zu sexualmoralischen Fragen und in seinen einschlägigen Dokumenten nur selten zu Fragen der Empfängnisregelung im Kontext der verantwortlichen Elternschaft geäußert hat. Angesichts der weltweiten Verbreitung künstlicher Empfängnisverhütung auch unter Katholikinnen und Katholiken fällt auf, dass er an keiner Stelle deren grundsätzliches Verbot in Rückgriff auf die Enzyklika Humanae vitae (1968) von Papst Paul VI. erneuert hat. In Dignitas infinita wird das Thema der sogenannten künstlichen Kontrazeption ebenfalls nicht als Beispiel für aktuelle schwerwiegende Menschenwürdeverletzungen erwähnt.
Ferner lässt sich im Passus über den sexuellen Missbrauch, der im Vergleich zu manch anderen Themen recht knapp gehalten ist, eine selbstkritische Note ausmachen. Am Ende dieses Abschnitt heißt es nämlich über die Kirche: "Daher setzt sie sich unermüdlich dafür ein, allen Arten von Missbrauch ein Ende zu setzen, und zwar beginnend im Innern der Kirche." (DI 43) Damit wird der Begriff des Missbrauchs erweitert und mit einem Anspruch versehen, an der sich das kirchliche Handeln zu Prävention, Intervention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Formen des Missbrauchs wie Missbrauch von Ordensfrauen, geistlicher Missbrauch, Machtmissbrauch, Autoritätsmissbrauch und anderen Arten von Missbrauch mehr in allen Regionen der Welt wird messen lassen müssen.
Schließlich zeigt sich auch beim Thema "Geschlechtsumwandlung" eine wichtige Nuancierung: Gemäß der lehramtlichen Anthropologie gibt es nur die beiden Geschlechter von Mann und Frau. Angesichts dieser Geschlechterdualität stellen Phänomene wie Trans- oder Intergeschlechtlichkeit Abweichungen dar. Insofern das biologische Geschlecht gemäß dieser dualen Anthropologie bestimmend ist, wurde bislang die Geschlechtsumwandlung grundsätzlich als Vergehen gegen die eigene Natur betrachtet. Während im Fall von Intersexualität eine Geschlechtsangleichung im Sinne einer therapeutischen Maßnahme noch als legitim ‚entschuldigt‘ werden konnte, galt das für transidenten Personen so nicht. In der Erklärung Dignitas infinita heißt es dagegen nun, "dass jeder geschlechtsverändernde Eingriff in der Regel die Gefahr birgt, die einzigartige Würde zu bedrohen, die ein Mensch vom Moment der Empfängnis an besitzt." Diese Formulierung ist in zweierlei Hinsicht offener, als bisherige lehramtliche Äußerungen. Mit "in der Regel" bezeichnen erstens kirchliche Dokumente, dass es Ausnahmen geben kann. Zweitens impliziert die Wendung "die Gefahr birgt", dass es sich nicht um einen Automatismus handelt, wonach jeder geschlechtsverändernde Eingriff zwingend die Würde des Menschen bedrohen würde. Und wenn sich Menschen in ihrer Geschlechtsidentität dann anders erfahren, als es bei der Geburt amtlich festgestellt worden ist, und sie aufgrund dieser Inkongruenz unter einem dauerhaften und massiven Leidensdruck stehen, handelt es sich ja um etwas ganz anderes als eine willkürliche, beliebige Wahl des Geschlechts. Daher konzediert das Dokument: "Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass eine Person mit bereits bei der Geburt vorhandenen oder sich später entwickelnden genitalen Anomalien sich für eine medizinische Behandlung zur Behebung dieser Anomalien entscheiden kann. In diesem Fall würde die Operation keine Geschlechtsumwandlung ein dem hier beabsichtigen Sinne darstellen." (DI 60) Vor dem Hintergrund der spannungsgelandenen Kontroverse um Fiducia supplicans sollten diese öffnenden Nuancierungen nicht übergangen werden.
V.
Mit der Erklärung Dignitas infinita legt der Präfekt des Glaubensdikasteriums, Kardinal Fernándes, zum ersten Mal ein lehramtliches Dokument vor, das konsequent das Prinzip der Menschenwürde in das Zentrum der kirchlichen Sozial- und Morallehre stellt. Die Erklärung ist ein weiterer Baustein, die Absicht von Papst Franziskus zu verwirklichen, sich wieder auf das Zweite Vatikanische Konzil und dessen Anliegen des Aggiornamento zu besinnen. Mit Papst Franziskus bezeichnet Dignitas infinita die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als einen "Königsweg" (DI 63) des menschlichen Fortschritts. Damit stellt sich die Kirche selbstverständlich ganz hinter den Anspruch der Menschenrechte. Diese können aber durchaus entsprechend den Zeichen der Zeit weiterentwickelt werden, wie etwa die UN-Kinderrechtskonvention (1989) oder die UN-Behindertenrechtskommission (2008) zeigen. So betont Dignitas infinita: "Der Einsatz für die Menschenrechte ist nie zu Ende!" (DI 63)
In seiner Präsentation hat Präfekt Fernández die kirchliche Überzeugung betont, "dass der Glaube nicht von der Verteidigung der Menschenwürde, die Evangelisierung nicht von der Förderung eines würdigen Lebens und die Spiritualität nicht vom Einsatz für die Würde aller Menschen getrennt werden können" (DI Präsentation). Hinter diesem Anspruch, der zugleich ein Selbstanspruch ist, kann die Kirche nicht zurückbleiben, wenn sie ihrem Glauben treu sein möchte. Dignitas infinita – ein Paradigmenwechsel?!
Jochen Sautermeister