DOMRADIO.DE: Ihr neues Buch trägt den Titel "Brandmeister Gottes - Für eine Kirche, die nicht lange fackelt". Gerne hätten Sie es aber "Der Strohmann Gottes" genannt, das verraten Sie direkt zu Beginn. Das wollte aber dann der Verlag nicht, weil das Missverständnisse hätte provozieren können. Warum ist Ihnen denn der Hinweis auf das Stroh im Stall von Bethlehem so wichtig?
Pfarrer Franz Meurer (Kath. Kirchengemeinde St. Theodor & St. Elisabeth, Köln Höhenberg-Vingst): Ja, das war eine schöne Geschichte. Ich habe eine Rundfunksendung gemacht und gefragt, wie man denn die Tatsache, dass nur ein Mädchen die Maria spielen kann, verbessern kann. Die Kabarettistin Carolin Kebekus hat das in ihrem Buch "Es darf nur eine sein" erwähnt.
Da kamen ganz viele Ideen, was man machen kann. Eine ältere Dame hat mir einen Zettel geschickt, wo "Stroh" drauf steht. Der Zettel ist von 1948. Sie war als kleines Mädchen damals Schülerin in einem Gymnasium, sie war sitzengeblieben, direkt nach dem Krieg.
Dann wurde verteilt, wer welche Rolle beim Krippenspiel bekommt. Die Nonne, die das machte, wollte sehr gerecht sein. Sie sollten also Lose ziehen. Der eine war dann Maria oder Ochs oder Esel oder König Herodes und so weiter.
Und was hat dieses Mädchen, das sitzengeblieben ist und die Jüngste in der Klasse war, gezogen? Stroh! Natürlich dachten alle anderen direkt an "strohdoof" oder so etwas. Sie war zuerst traurig, aber als sie den Zettel nach Jahrzehnten wieder gefunden hat, hat sie gedacht: "Moment, ich war dem Jesus doch am nächsten. Auf mich kam es doch an, in das Stroh konnte er Pipi reinmachen. Ich habe ihn als Stroh gewärmt." Daher war sie happy, dass sie das Stroh in der Krippe Jesu sein konnte.
Das hat mich so angefixt, dass wir uns gegenseitig geschrieben haben. Ich fand diese Doppelbedeutung "Strohmann Gottes" nicht schlecht. Da hätte man was draus machen können, zum Beispiel, dass man sein Bestes gibt und es trotzdem nicht reicht und so weiter. Aber den Titel eines Buches muss der Verlag bestimmen, denn die wollen es ja auch verkaufen. Und so konnte ich in der Einleitung des Buches zumindest die Geschichte erzählen.
DOMRADIO.DE: "Brandmeister Gottes" ist ja auch nicht schlecht. Damit konnten Sie sich dann anfreunden?
Meurer: Sagen wir mal so, ich habe gedacht, so ist es in Ordnung. Einer schrieb mir und hat im Spaß vorgeschlagen, dass das nächste Buch dann Feuermelder heißen soll und das übernächste dann Brandstifter. Nee, das machen wir aber nicht (lacht).
DOMRADIO.DE: Direkt zu Beginn des Buches sprechen Sie über zwei andere Bücher, über Romane und sagen auch selber, als Priester würde man vielleicht denken, dass man nur die Bibel liest. Warum ist Ihnen denn für Ihr persönliches Leben und auch Ihr Wirken als Seelsorger, als Priester, das Lesen von säkularen Büchern, von Romanen, so wichtig?
Meurer: Erstens sind wir ja eine Buchreligion, wie das Judentum und der Islam. Zweitens bin ich der festen Überzeugung, dass die Schriftstellerinnen und Schriftsteller "dünnhäutig" sind. Die kriegen mit, was sich in der Gesellschaft tut. Die wissen, was man in Bewegung setzen muss, wie man zum Erfolg kommt.
Zum Beispiel ist das Buch von Caroline Wahl "22 Bahnen" verrückterweise auf einen Bestseller hin geschrieben worden. Die war Verlagsangestellte und wollte einen Bestseller schreiben. Sie hat Themen aufgegriffen, die uns heute bewegen, gerade als Christen. Ihr Thema sind "Young Carer", also junge Menschen, die sich kümmern.
Eine halbe Million Kinder und Jugendliche kümmern sich beispielsweise um ihre alkoholkranken Eltern oder um den Vater mit dem Schlaganfall und so weiter. Das sind Themen, die wir wahrnehmen müssen. Und wenn das durch Schriftstellerinnen und Schriftsteller dann auch noch hochpoetisch dargeboten wird, dann kann ich mir mehr Glück im Leben kaum vorstellen, als daran durch Lesen teilzunehmen.
DOMRADIO.DE: Sie führen in Ihrem Buch immer wieder konkrete Beispiele aus Ihrer Gemeinde an. Wie kriegen Sie das zusammen, also das "Akademische" und dann wieder das "harte Leben"?
Meurer: Papst Johannes Paul I., der 1978 nach 33 Tagen im Amt schon starb, hat gesagt: "Der Weg der Kirche ist der Mensch". Das ist eine uralte Sache. Das heißt, wenn wir an Menschwerdung glauben, wenn wir dran glauben, dass Jesus als Baby, genauso wie Sie und ich, in die Windel gemacht hat, dann geht doch nichts daran vorbei, als daran teilzunehmen. Das heißt, das normale Leben ist der Weg zu Gott.
Einer meiner Lieblingssätze ist auch von Johannes Paul I.: "Gott ist wie ein Vater und noch mehr ist er wie eine Mutter". Ich finde solche Dinge wahrzunehmen und sich nicht Gott als einen Mann mit langem Bart vorzustellen, sondern als den, der an unserem Leben teilnimmt - das wäre meine Erfahrung und dann auch meine Botschaft.
DOMRADIO.DE: Sie wirken als Pfarrer in einer Pfarrei, in der es viel Armut gibt. Das ist in Ihrem Buch ein großes Thema. Woher nehmen Sie die Energie, nach all den Jahren immer wieder gegen diese doch schwierigen Umstände vorzugehen?
Meurer: Die schwierigen Umständen sind ja auch schöne Umstände! Beispielsweise läuft zurzeit wieder unserer ökumenische Kinderstadt "HöVi-Land". Das heißt, über 100 Jugendliche sind Gruppenleiter und setzen sich für 450 Kinder in festen Gruppen ein. Die sind das ganze Jahr über Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner.
Ich lebe ja wie ein Fisch im Wasser, das heißt, ich bekomme mit, das auch was funktioniert! Natürlich darf man nicht meinen, dass sich die Welt von heute auf morgen verändert, um es mal ganz klar zu sagen. Natürlich wird unser Viertel aufgrund der Wohn- und Lebensverhältnisse immer in seinen Möglichkeiten eingeschränkt bleiben.
Aber wer bei uns im "HöVi-Land" Leiter oder Leiterin war und sich später bewirbt, hat unsere Ausbildung gemacht, die übrigens sehr streng ist. Wer mitmachen will und einmal fehlt, muss immer ein ärztliches Attest mitbringen. Denn die haben ja sonst Erste Hilfe oder Rechtsfragen oder Ähnliches gar nicht mitbekommen.
Das heißt, was wir machen, ist, die Menschen zu ermutigen. Oder heute sagt man "Empowerment", ihnen also die Kraft zu geben. Da ist das Stichwort "Befähigungsgerechtigkeit".
Im Buch habe ich ein ganz kurzes Kapitel über den Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen geschrieben. Er sagt, dass Chancengleichheit nicht reicht. Wir brauchen Befähigungsgerechtigkeit. Das heißt, wir müssen schon auf heute übersetzt im Kindergarten anfangen, dass man überhaupt lernen lernt. Wenn das funktioniert, wenn die Leute sich engagieren, dann gibt es doch nichts Schöneres.
DOMRADIO.DE: Man merkt immer wieder, wie die Gemeinde bei Ihnen in Ihr Leben, in Ihr Denken reinspielt. Ich fand es bemerkenswert, dass Sie zehn Leitsätze oder Leitplanken zum Glück noch mal für sich selber ausformuliert haben, die Sie im Rahmen Ihrer Arbeit mit den Ehrenamtlichen in der Gemeinde gemeinsam formuliert haben. Warum haben Sie denn diese Leitsätze, die eigentlich für eine Arbeit in der Pfarrei sind, in Ihr Buch aufgenommen?
Meurer: Weil ich es sehr wichtig finde, dass man das, was man tut, auch persönlich mit Überzeugung umsetzt. Für mich sind auch die kölschen Grundsätze zum Glück Leitsätze:
Et es wie et es - das bedeutet die Wirklichkeit kommt vor der Idee, sagt Papst Franziskus. Et kütt, wie et kütt: Wir haben als Christen keine Angst vor der Zukunft, oder: Et hätt noch immer jot jejange, das heißt, wir sind im Kern konservativ. Das bin ich ja auch, aber es heißt auch als Nr. 4: Was fott es, es fott. Das heißt, wir gucken auch nach vorne, in die Zukunft. Oder: Nix bliev wie et wor; für uns ist klar, was nicht nur für die Kirche gilt - ecclesia semper reformanda - das bedeutet konkret: Wer sich nicht verändert, der bleibt sich nicht treu.
Oder: Kenne mer nit, bruche mer nit, fott domet. Das heißt für mich im jesuitischen Sinn: Unterscheidung der Geister. Man muss sehen, was nützt und was nicht. Wat wellste maache - das heißt, wir akzeptieren auch die Vorsehung Gottes.
Mach et jot ävver nit ze off - da geht es ums Maßhalten, also ökologischer als mit Papst Franziskus geht es doch kaum. Wat soll dä Quatsch? Das bedeutet, wir müssen schon fragen, jetzt mal theologisch gesagt, cui bono? Wofür ist alles da? Der Katechismus der katholischen Kirche hat als ersten Satz: Gott will, dass wir an seiner Glückseligkeit teilnehmen. Also besser geht es doch nicht.
"Drink doch ene met" bedeutet im kölschen Grundgesetz Gastfreundschaft. Dazu habe ich eine längere Ausführung im Buch. Es geht nicht nur um das Kölschtrinken, sondern das Ursprungslied der "Bläck Fööss" behandelt ein kleines Kind, das einsam ist. Dann kommen andere auf es zu und sagen: Mach doch einfach mit, stell dich nicht so an!
Unseren Kindern in der Gemeinde sag ich oft: Wenn du zu einem Kind sagst, du stinkst, du spielst nicht mit, ist das der soziale Tod mitten im Leben. Wenn du zu einem sagt: Komm her, mach mit, hier ist der Ball, dann ist das Auferstehung mitten im Leben. Und jedes Kind im Kindergarten kennt ein englisches Wort: Mobbing. Dann nicken die. Ja, Mobbing ist das Schlimmste, was passieren kann.
Und dann ist in Köln natürlich das elfte Gebot wichtig: Do laachste dech kapott. Den Rheinische Katholizismus will ich ja retten und der Humor ist dafür ganz wichtig. Und mein Motto des Lebens ist auch Kölsch: Nix es esu schläch, dat et nit für jet jot es! Das heißt, jeder Beitrag zählt! Es gibt keinen Beitrag, der nicht förderlich ist. Also, das wären meine Glücksmomente op Kölsch.
DOMRADIO.DE: Sie haben eben schon ein wichtiges Stichwort des Buches genannt, nämlich den Rheinischen Katholizismus. Und da sagen Sie, der sei in der Wurzel demokratisch. Wie meinen Sie das?
Meurer: Weil jeder einen Beitrag leisten kann, so wie ich es jetzt gesagt habe. Die Kirche ist selbstverständlich Christus verpflichtet, der ist der Souverän. Das heißt, ich bin ja urkonservativ, was dogmatische Fragen anbetrifft.
Dazu muss man auch nicht so weit gehen und wie Papst Pius XII. sagen: "Jeder weiß doch, dass die Kirche alles, was sie anordnet, auch verändern kann." Das ist richtig katholisch! Die Wahrheit ist symphonisch!
Auf der anderen Seite sagt der große Theologe Hans Urs von Balthasar: Jede Stimme, jedes Instrument trägt etwas dazu bei.
Heutzutage ist es ja so: Wenn ich bei uns in der Pfarrei sagen würde, ich bin der Pastor, also macht es so wie ich es sage, da würden die den Arzt rufen. Denn die Entscheidungen in der praktischen Lebensführung einer Gemeinde sind doch immer besser demokratisch. Bei uns macht es keine der Gruppen, die sich engagieren, egal ob Fahrradwerkstatt oder Lebensmittelausgabe, Kleiderkammer oder "HöVi-Land", so, wie ich es machen würde. Ich würde alles anders machen. Aber man kann eben so oder anders machen. Und wenn die Leute es tun und das Know how dafür entwickeln, dann kann ich doch nur staunend davor stehen und sagen: Och, dat et dat all jitt. (Ach, das es das alles gibt, Anm. d. Red.)
Das ist der Rheinische Katholizismus, der selbstverständlich dem Herrgott verpflichtet ist. Man verändert sich im Leben ja auch. Oder ein ganz aktuelles Beispiel: Ich habe mich in meiner ersten Priesterzeit mit dem Thema Homosexualität niemals beschäftigt.
Aber heutzutage ist völlig klar, dass das ein Thema ist, das die Menschen umtreibt. Da müssen wir als Christen eine Aussage zu machen und die ist doch ganz einfach: Die Schöpfung ist als solche gut - wir gehen schlecht damit um! Wir gehen schlecht mit den Menschen um, mit den Tieren, mit der Natur. Das stört mich sehr.
DOMRADIO.DE: Das Thema Vielfalt, Buntheit des Volkes Gottes ist auch ein wichtiger Punkt in Ihrem Buch. Sie haben nochmal deutlich gesagt, dass sich die Gemeinde in die Landschaft der Gesellschaft inkulturieren soll. Wie könnte das konkret für die Kirche aussehen?
Meurer: Das hat schon Johannes Paul II. gesagt. Evangelisation heißt auch Inkulturation. Das bedeutet zum Beispiel ganz aktuell wahrzunehmen, was sich bei der Künstlichen Intelligenz alles tut. Da müssen wir Christen eine Position zu beziehen, da ist der Papst auch kräftig mit Spezialisten dran.
Das bedeutet auch, dass wir die zunehmende Ungerechtigkeit in der Gesellschaft wahrnehmen. Das bedeutet auch, dass wir versuchen, einen neuen Zugang zum Frieden zu finden. Die Rede vom gerechten Krieg geht nicht mehr oder auch die Todesstrafe sehen wir Christen heute anders. Die gibt es für uns Christen nicht mehr, die können wir nicht akzeptieren mit allen Problemen, die dazugehören.
Also Inkulturation heißt, ich sage es positiv, dass wir auch den rheinischen Kapitalismus, die christliche Soziallehre wieder neu beleben, wo eben nicht nur die Shareholder, sondern die Stakeholder, die, die die Arbeit machen, in den Mittelpunkt gerückt werden, wo nicht Hire and Fire wie in den USA zum Beispiel herrscht. Nein, wir haben eine ganz klare Arbeitsgerichtsbarkeit zum Beispiel.
Oder für uns Kirche ganz wichtig ist die Subsidiarität. Die Leute vor Ort wissen es doch am besten. Das heißt, wir haben einen großen Schatz an Erkenntnissen.
DOMRADIO.DE: Ein ganz kleiner Teil in dem Buch hat schnell für Schlagzeilen gesorgt. Sie haben in dem Buch knapp Ihre Sichtweise auf die derzeitige Situation des Erzbistums mit Kardinal Woelki dargelegt. Warum war es Ihnen ein Anliegen, sich dazu zu äußern?
Meurer: Also erstens, wenn ich jetzt ein aktuelles Buch unter der Überschrift schreibe, wie man jetzt und heute unter den Bedingungen dieser Welt ein vernünftiger Christ sein kann, dann geht es gar nicht anders, als dazu eine Aussage zu machen.
Meine Grundaussage lautet: Unser Erzbischof Rainer Woelki ist eine ehrliche Haut. Meine Meinung ist ja nun mal so, dass die gar nicht mehr von so vielen Menschen geteilt wird. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass es in die Rechtsfalle gelaufen ist. Das heißt, egal wo ich mit Leuten spreche, da sagen sie: Noch zahle ich Kirchensteuer. Aber die beim Bistum können doch nicht 800.000 Euro für Kommunikationsberatung ausgeben. Wenn schon die Bischöfe nicht mehr kommunizieren können, dann ist da alles vorbei.
Das heißt, da müssen wir aber hingucken, was die Leute umtreibt. Und wenn ich dann ein Buch schreibe, ganz aktuell und nicht auf die Situation eingehe, dann kann man das nicht verantworten. Meine These ist, was der Weltwirtschaftsgipfel sagt: Vertrauen wiedergewinnen! Der Kapitalismus lebt nur vom Vertrauen. Wir als Kirche haben eigentlich nur eine einzige Chance, wenn wir einander vertrauen. So wie Gott uns vertraut, wenn man es ganz fromm ausdrücken will.
DOMRADIO.DE: Ein Kapitel von Ihrem Buch ist für eine Kirche, die nicht lange fackelt. Wenn Sie jetzt für einen Tag Papst wären, was wäre denn das, was Sie sofort ändern würden oder sagen würden: Das muss so bleiben!
Meurer: Ich würde gar nichts an dem einen Tag ändern. Ich würde allen sagen, jetzt machen wir mal einen Ausflug, wir kommen alle zusammen, jeder sagt mal sein Lieblingsbibelwort. Jeder teilt mir seinen Wunsch mit, seine Vision und dann lassen wir das mal sacken. Das heißt, man müsste ganz anders rangehen. Man müsste sagen, das "Wir" gewinnt zum Beispiel. Dieses "Wir" in den Mittelpunkt zu stellen, finde ich schon den richtigen Ansatz.
Und nebenbei: Papst zu werden, finde ich, ist beim nächsten Mal doch eine große Frage, ob da nicht eine Frau dran wäre.
Das Interview führte Mathias Peter.