DOMRADIO.DE: Allerheiligen, Allerseelen, Volkstrauertag und auch der Totensonntag sind für viele Menschen traditionelle "Friedhofstage". Selbst wenn sie nicht gläubig sind, ist der Besuch am Grab eines geliebten Verstorbenen eine Gewohnheit, die ihnen wichtig ist und die sie im gesamten Trauermonat November mehr pflegen als zu anderen Zeiten. Warum ist das eigentlich so?
Dr. Peter Seul (Pfarrvikar in Köln-Mitte): Jetzt im Herbst und nahenden Winter stirbt die Natur ab, die Blätter verfärben sich, und das erinnert die Menschen an ihre Vergänglichkeit und den eigenen Tod – an das "memento mori", bedenke Mensch, dass du sterblich bist.
Und dann sind das natürlich auch christlichen Gedenktage mit einer großen Tradition und vielen Bräuchen rund um das Totengedenken: der Friedhofsbesuch, das Anzünden einer Kerze oder das Aufstellen von Blumen. Nebenbei bemerkt machen die Gärtner gerade in diesen Tagen sicher auch ein gutes Geschäft, weil üppiger Grabschmuck zu diesen Feiertagen richtig etwas kosten darf.
Und da sich das Thema Vergänglichkeit mit einem Mal so in den Vordergrund drängt, haben manche ja auch richtig Angst vor dem Winter – nach dem warmen Sommer mit seinen bunten Farben und einem Leben, das in der Natur seinen Höchststand an Reife und Entfaltung erreicht. Viele verfallen regelrecht in eine Depression.
Man ist mehr als sonst auf sich zurückgeworfen, die Tage werden kürzer, der Kontakt nach außen – volle Straßencafés, lebhaftes Treiben in den Parks und auf den öffentlichen Plätzen – nimmt merklich ab. Und da werden Menschen fast zwangsläufig darauf gestoßen, sich ihrer Endlichkeit zu stellen: dass nichts auf dieser Erde Bestand hat.
DOMRADIO.DE: Was genau macht den Unterschied zwischen Allerheiligen und Allerseelen aus, die so dicht beieinander liegen?
Seul: Das sind zwei unterschiedliche Feiertage mit unterschiedlichen Entstehungsgeschichten. Allerheiligen ist ein Hochfest, das zurückgeht auf das römische Pantheon mit seiner riesigen Kuppel. Dieser zunächst heidnische Tempel war allen Göttern geweiht und wurde dann im 6. Jahrhundert zu einer christlichen Kirche umgewidmet mit dem Gedenken an die Gottesmutter Maria und allen Märtyrern. Daraus hat sich liturgisch dieses Fest entwickelt.
Allerheiligen nimmt Menschen in den Blick, von denen die Kirche überzeugt ist, dass sie schon zur Vollendung gelangt sind. Es gibt ja ein Verzeichnis in der katholischen Kirche, in dem alle Heiligen namentlich aufgelistet sind und dem erst kürzlich Papst Franziskus wieder 14 neue Heilige hinzugefügt hat.
Allerseelen dagegen ist ein Gedenktag und viel später – erst im Jahr 998 – entstanden. Er geht zurück auf Cluny in Frankreich, eines der einflussreichsten religiösen Zentren des Mittelalters. Damals hatte Cluny eine riesige Klosterkirche mit 1.000 Mönchen, wovon heute aber nur noch der "kleine" Weihwasserturm steht. Die Äbte von Cluny waren sehr mächtige Kirchenfürsten, und einer von ihnen – Abt Odilo – hat das Allerseelen-Gedenken eingeführt. An diesem Tag wird der vielen anonymen Heiligen gedacht, die in ihrem Leben Gottes Willen entsprochen haben und von denen wir hoffen, dass sie bei Gott sind.
Beide Feste haben mit Vollendung, mit der Aussicht auf das Ziel des menschlichen Lebens, zu tun. Während die einen bereits bei Gott sind, müssen die anderen darauf noch warten und sich vorbereiten – durch einen Prozess von Gericht und Fegefeuer und allem, was damit zusammenhängt.
DOMRADIO.DE: Gerade die weitläufigen Friedhöfe in Köln laden in dieser Jahreszeit zu ausgedehnten Spaziergängen entlang an kunstvoll mit Skulpturen gestalteten Grabmalen ein, bei deren Betrachtung man oft zwangsläufig auf die großen Fragen nach Leben und Sterben gestoßen wird. Sie sprechen es an: Vor ein paar Jahrzehnten waren die Begriffe "Fegefeuer" und "Hölle" noch sehr präsent und auch die Ängste davor. Mittlerweile taugen solche Bilder kaum noch. Woran haben die Menschen früher geglaubt? Was gab ihnen Trost?
Seul: Viele Menschen sind heute sehr fixiert auf das Hier und Jetzt. Sie brauchen keinen Bezug auf ein Jenseits, auf Gott. Der Tod ist für uns Christen aber nicht nur das natürliche Ende des menschlichen Lebens, sondern auch der Moment der Gottesbegegnung, und die ist sicher für manche angstbesetzt, weil sie von ihrer Erziehung in Kindheit und Jugend her ein eher negatives Gottesbild in sich tragen: Gott als Rächer und Vergelter, Gott als Richter und Strafender. Das sind Bilder von Gott, die diese Menschen zutiefst verunsichern. Und wenn dann noch die Rede von Himmel, Hölle und Fegefeuer, die ja durchaus biblisch belegt ist, dazu kommt, dann verschärft das noch einmal zusätzlich die Angst vor dem Tod.
Ich habe im Studium gelernt: In der Lehre von den "Letzten Dingen", also von dem, was nach dem Tod kommt, sind alle Begriffe personal auf Gott auszulegen und meinen weniger einen Ort. Also Himmel ist Gott als Gewonnener, Hölle ist Gott als Verlorener und Fegefeuer ist Gott als Reinigender. Ich bin davon überzeugt, dass ich so, wie ich jetzt bin, nicht gottes-fähig bin. Um vor ihn, den Heiligen, hintreten zu können, bedarf es eines Läuterungsprozesses, bei dem alles aufs Tapet kommt, was in meinem Leben gelungen und nicht gelungen ist.
Letzteres kann bedeuten, dass ich nicht nur das Böses getan habe, sondern auch – wie es im Schuldbekenntnis heißt – das Gute unterlassen habe. Im Angesicht Gottes kommt jedenfalls die ganze Wahrheit meines Lebens auf den Tisch. Gottes Gericht meint auch die Rehabilitation der vielen Opfer der Geschichte, der Unterdrückten, Geschändeten, Getöteten: Am Ende darf nicht der Täter über das Opfer triumphieren, am Ende muss gerade für die Opfer menschlicher Gewalt und Bosheit die Gerechtigkeit wiederhergestellt werden. Und zwar durch Gott!
DOMRADIO.DE: Was hat sich an unserem Gottesbild denn inzwischen geändert?
Seul: Die Bibel spricht ja nicht nur vom richtenden, sondern auch vom barmherzigen Gott. Das "Evangelium im Evangelium" ist für viele das Gleichnis Jesu vom barmherzigen Vater. Die große Herausforderung besteht für mich darin, Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zusammenzudenken. Also Gott nicht als unbarmherzigen Richter zu denken, aber auch nicht als einen, der am Ende alle Schuld und Sünde einfach durchwinkt.
Ich denke, im Hinblick auf unsere Begegnung mit Gott im Tod müsste jeder Mensch im Grunde sagen: Ich kann mir den Himmel nicht verdienen, sondern ich muss ihn mir schenken lassen – von Gott. Der Glaube an die Auferstehung beinhaltet jedenfalls ein großes Hoffnungspotential, dass das Leben nicht im Nichts endet, sondern dass es in die Herrlichkeit Gottes mündet. Er ist zugleich eine große Motivation, so zu leben, dass das irdische Leben vor Gott Bestand hat.
DOMRADIO.DE: Die Menschen zünden auf den Gräbern ihrer Angehörigen eine Kerze an, schmücken sie mit Blumen oder denken sich andere Rituale aus, um sich liebevoll an ihre Verstorbenen zu erinnern. Was bedeutet Totengedenken für uns Christen?
Seul: Zunächst einmal ist Totengedenken keine christliche Erfindung, sondern findet sich schon im Alten Testament, zum Beispiel im Buch der Makkabäer. Und in der christlichen Liturgie ist es fester Bestandteil jeder heiligen Messe: In den Fürbitten und im Hochgebet wird ausdrücklich für die Verstorbenen gebetet. Dahinter steht auch die Vorstellung von Kirche als Gemeinschaft von Lebenden und Toten.
Anschaulich dargestellt ist das für mich in der Anlage der Benediktinerabtei in Meschede: Im Chor der Kirche hinter dem Altar sitzen und beten die gegenwärtigen Mönche der Abtei, unmittelbar dahinter – nur durch die Mauer der Kirche getrennt – liegen die verstorbenen Mönche auf dem Klosterfriedhof. Die Verstorbenen sind also nicht einfach weg, sie gehören weiterhin dazu, feiern die Gottesdienste der Mönchsgemeinschaft weiterhin mit.
Es gibt ja in der katholischen Kirche auch den Brauch des Sechswochenamtes, wenn die Hinterbliebenen ein paar Wochen nach dem Tod des Verstorbenen noch einmal zum Gottesdienst zusammenkommen, oder das Jahresgedächtnis, wenn die tiefe Trauer über den Verlust eines lieben Menschen sich ein Stück weit gesetzt hat und der Alltag wieder eingekehrt ist.
Es geht in all dem darum, die Verstorbenen in unserem Leben lebendig zu halten, ihnen ein ehrendes Andenken zu bewahren – auch in Dankbarkeit, denn sie haben uns ja vielfältig geprägt. "Die Toten sind mächtig", sagt der österreichische Schriftsteller Karl Heinrich Waggerl, "es laufen Fäden von den Gräbern her über das ganze Dorf... es zieht und zerrt dich näher und näher".
"Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn man sich nicht mehr an ihn erinnert", heißt es manchmal auf Todesanzeigen. Aber was ist, wenn auch die Hinterbliebenen nicht mehr da sind, um unserer zu gedenken? Das ist dann die große Hoffnung von uns Christen, dass einer da ist, der uns nie vergisst. So heißt es im Psalm 121 von Gott: "Der Hüter Israels schläft und schlummert nicht".
DOMRADIO.DE: Stichwort "Wenn sich niemand mehr an uns erinnert": Die Zahl anonymer Bestattungen, bei denen an der Beisetzungsstelle auf jeglichen Namenshinweis verzichtet wird, nimmt seit Jahren zu wie auch die von Menschen, um die niemand mehr trauert und deren letztes Geleit ohne irgendeine persönliche Anteilnahme stattfindet. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus, und wie geht die Kirche damit um?
Seul: Die Gründe für anonyme Beerdigungen sind ganz unterschiedlich. Wer sich anonym begraben lässt, hat oft die Sorge, dass sich niemand um das Grab kümmern kann. Das ist also kein Ausdruck der Leugnung einer Auferstehungshoffnung, sondern hängt mit dem Umstand zusammen, dass die Kinder und Angehörigen über das ganze Land verstreut wohnen.
Und ein ungepflegtes, verwildertes Grab ist etwas sehr Trauriges. Es hängt natürlich auch mit der Vereinsamung der Menschen zusammen, die unverschuldet, aber manchmal sogar selbst gewählt ist.
Außerdem nehme ich zunehmend wahr, dass bei einem Todesfall massive Konflikte in der Familie zutage treten, manchmal auch eine starke Entfremdung zwischen dem Verstorbenen und den eigenen Angehörigen offenkundig wird. Aber auch in der anonymen Bestattung hat die Nennung des Namens, der ja etwas sehr Persönliches und Unverwechselbares ist, seinen festen Platz. Immer wird dabei das Wort aus dem Jesaja-Buch verlesen: Ich, Gott, habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.
Gerade an Allerseelen werden in vielen Gemeinden die Hinterbliebenen zum Gottesdienst eingeladen, wo die Namen der Verstorbenen des vergangenen Jahres laut vorgetragen und dabei Kerzenlichter im Altarraum entzündet werden. In manchen Gemeinden gibt es übrigens mittlerweile ehrenamtliche Frauen und Männer, die mit zum Begräbnis gehen und so die Verbundenheit der Gemeinde mit den Verstorbenen über den Tod hinaus zum Ausdruck bringen.
DOMRADIO.DE: Was steht für Sie persönlich an diesen beiden kirchlichen Festen Allerheiligen und Allerseelen im Zentrum? Worin liegt die christliche Botschaft?
Seul: Auch für mich gehört der Friedhofsbesuch dazu. Mein Elternhaus liegt direkt gegenüber dem Kölner Nordfriedhof, wir sind also immer ganz schnell bei den Gräbern meiner Familie. Ich erinnere mich noch gut, dass in meiner Kindheit meine Großmutter regelmäßig mit mir zu den Gräbern der verstorbenen Verwandten gegangen ist. Sie hat mir dann immer viel von deren Leben erzählt; so habe ich sie ganz gut kennenlernen können.
Am Allerheiligentag sind wir als Familie oft nach Einbruch der Dunkelheit auf den Friedhof gegangen, weil auf vielen Gräbern bunte Lampen standen. Sie haben den Ort des Todes in ein lebendiges Lichtermeer verwandelt. Ein sprechendes Zeichen der Hoffnung über den Tod hinaus, das sich mir tief eingeprägt hat.
Bis heute feiere ich sehr gern die Liturgie des Allerheiligenfestes. Vor allem die Lesung aus der Offenbarung des Johannes hat es mir angetan. Sie spricht vom Leid und der großen Bedrängnis von Menschen, aber auch von der Hoffnung, dass am Ende alles gut sein wird – durch Gott. Das macht mir Mut – gerade in der aktuellen Weltsituation – nicht daran zu zweifeln, dass wir und die ganze Welt bei Gott weiterhin in guten Händen sind, dass er auch in Zukunft der Herr im Haus der Geschichte ist und alles zu einem guten Ende führt.
Allerheiligen feiern wir unsere Hoffnung auf Auferstehung. Diese Hoffnung unterscheidet uns nach dem heiligen Paulus von den Menschen, die nicht daran glauben. Wir sollen nicht trauern wie die, die keine Hoffnung haben, sagt er in einem seiner Briefe. Hoffnungslosigkeit, Perspektivlosigkeit sind wohl das Schlimmste, das einem Menschen passieren kann.
Die christliche Hoffnung hat ihren Grund in der Auferstehung Jesu Christi. Von ihm sagt Paulus: Er ist der "Erste der Entschlafenen". Seine Auferstehung steht somit nicht isoliert, sondern in engem Zusammenhang mit unserer Auferstehung. Jesus als „Anführer des Lebens“, wie einer seiner Titel lautet, wird auch uns und unsere Verstorbenen ins Leben führen. Das ist es, was wir an Allerheiligen und Allerseelen feiern!
Das Interview führte Beatrice Tomasetti