DOMRADIO.DE: Wenn Sie an Ihr zwölfjähriges Ich zurückdenken während dieses Großevents in München, wie haben Sie sich damals gefühlt?
Pfarrer Rainer Schießler (Katholische Gemeinde Sankt Maximilian in München): Ich drücke das gerne mal in einem Satz aus. Damals begann ich, langsam erwachsen zu werden. Ich habe mein erstes Jahr Gymnasium lebend überstanden. Ich habe mich mit Latein langsam angefreundet und meine Geburts- und Heimatstadt wurde erwachsen. Wir sind sozusagen parallel großgeworden.
Ich habe diese Stadt um mich herum auf einmal als eine Stadt erlebt, die zu einer Weltstadt werden durfte. Eine U-Bahn wurde gebaut. Die Stadt hat sich geöffnet. Vor 25 Jahren, in der Nachkriegszeit, war man noch die abgelehnte Nation. Und jetzt waren wir die einladende Nation. Wir wurden zu einem Hort, zu einer vorübergehenden Heimat, für viele Menschen auf der ganzen Welt. Und das hat sich für uns Jugendliche natürlich ganz stark ausgewirkt, dass wir wieder Gastgeber sein dürfen.
DOMRADIO.DE: Das war wirklich ein riesiges Event, was die Stadt geprägt hat, was jetzt 50 Jahre her ist. Wie sehr ist dieses Jubiläum gerade in diesem Jahr in München zu spüren?
Schießler: Die European Championships, die hier stattgefunden haben, waren unerwarteter Weise - ich glaube, es hat niemand damit gerechnet - ein Revival dieses Feelings. Ich selber konnte leibhaftig nicht teilnehmen, weil ich verletzt war. Aber ich habe mir natürlich im Fernsehen und im Internet eine Menge angeschaut - an den verschiedenen Orten in der Stadt, ob am Königsplatz die Kletterer oder natürlich an der Ruder-Regattastrecke, wo ich auch als 12-Jähriger mal sein durfte. Ich spreche heute mit jungen Leuten, die keine Ahnung haben, wie es vor 50 Jahren war, aber die voller Begeisterung diese Fest-Atmosphäre erleben. Ich habe nur gestaunt über diese positive Stimmung. Deswegen gibt es jetzt ja auch diese Diskussion: Wir müssen uns endlich wieder mal bewerben um Olympische Spiele. Ich stehe da auch dahinter.
DOMRADIO.DE: Überschattet wurden die Spiele damals ja leider von einem Attentat. Palästinensische Terroristen haben das israelische Quartier im olympischen Dorf überfallen. Wie sehr schwingt das mit in diesem Jubiläumsjahr?
Schießler: Also zunächst einmal: Ich habe es als 12-Jähriger zwar aus der Ferne, aber trotzdem erlebt. Wir saßen damals auf unserem Balkon, und über uns flogen diese Hubschrauber nach Fürstenfeldbruck. Und wir wussten genau: Da oben in diesen Flugzeugen, da sitzen jetzt Menschen, die Todesangst haben. Und dann ist die Katastrophe passiert. Und diese lähmende Stille, die da war, dieses Überlegen, wie geht es weiter? Dann dieser Ruf von Samaranch: The Games must go on.
Ich weiß nicht, ob wir heute noch den Mut hätten, das zu tun. Aber es war alles so jungfräulich, diese ganze Aufbruchstimmung, dass man auch das gewagt hat. Wenn man heute in den Olympiapark geht, da gibt es ein ganz hervorragend gestaltetes Mahnmal - eine Erinnerungsstätte - an die Opfer. Ich kann nur jedem empfehlen dahin zu gehen. Aber die Diskussion darüber, ob man ein Gedenken machen soll, oder nicht, habe ich als überflüssig empfunden. Natürlich gedenken wir. Und wenn es geht, nicht nur dieses Jahr, sondern jeden Tag.
DOMRADIO.DE: Sie haben jetzt eben schon von dieser Euphorie erzählt, die Sie als Junge da erlebt haben. Hat Ihnen aber dieses Attentat als Junge Angst gemacht?
Schießler: Es hat mir Angst gemacht. Es war die erste Erfahrung mit Terrorismus, die wir überhaupt in diesem Land hatten - wie brutal so etwas ist. Es hat uns den Boden unter den Füßen weggezogen. Nicht, weil wir Angst hatten, die Spiele könnten jetzt aufhören, sondern weil wir nicht gewusst haben: Mit welcher Einstellung geht man überhaupt jetzt wieder in den Alltag? So muss in der Rückschau sagen, das war eine mega Leistung, die die Verantwortlichen in Politik, in Gesellschaft, auch in der Kirche und alle, die die Menschen betreut haben, damals vollbracht haben, dass es ein Weitergehen geben konnte. Dafür bin ich heute wahnsinnig dankbar, dass da mutige Leute am Werk waren.
DOMRADIO.DE: Also ein sehr prägendes Erlebnis für Deutschland und auch für Sie persönlich. Sie haben es eben schon angedeutet. Wie sehr würden Sie sich denn die Olympischen Spiele nochmal nach München zurückwünschen?
Schießler: Sehr, und zwar möglichst bald. Nicht nur, weil wir in diesem Land diese Spiele brauchen. Diese Spiele - das muss bei denen, die das nicht wollen, immer wieder sagen - diese Spiele sind die Möglichkeit, Völker und Nationen zueinander zu bringen. Und nur in diesem Miteinander können wir das Auseinanderdriften, gerade in der globalisierten Welt, diese Gegensätze und diese Kriegereien, die wir jetzt gerade erleben, im Vorfeld vielleicht schon abbauen und verhindern. Wir brauchen diese Spiele. Unbedingt.
Das Interview führte Julia Reck.