DOMRADIO.DE: Ist die CDU auch jetzt in der neuen Grundwertecharta aus ihrer Sicht noch christlich?
Dr. Andreas Püttmann (Politikwissenschaftler und Publizist): Grundsätzlich ja. Das Thema ist allerdings sehr komplex. Man bräuchte eine sozialethische Analyse der gesamten Programmatik und Praxis für eine differenzierte Antwort. Immerhin bekennt sich die Partei weiterhin als einzige parlamentarische Kraft zum Christentum als Wertegrundlage. Die Verwirklichung von Werten geschieht durch Normen, Institutionen und Tugenden.
Deswegen wäre das Prüfschema: Inwieweit entsprechen die inhaltlichen Positionen der CDU christlicher Ethik? Wie geht man mit den christlichen Kirchen und christlichen Organisationen um? Wie ist der Habitus sich christlich nennender Politiker? Ist er des Christlichen würdig oder nicht?
Man kann aber auch empirisch vorgehen und fragen: Wohin geht denn die christliche Schwarmintelligenz bei der Wahl? Und da stellt man fest, dass bei der letzten Bundestagswahl vor der Pandemie 2017 von den wöchentlichen Kirchgängern im Westen 66 Prozent der Katholiken und 41 Prozent der Protestanten Union wählten und im Osten 44 Prozent aller Katholiken und 37 Prozent der Protestanten, obwohl die Union nur ein Drittel der Stimmen in Gesamtdeutschland bekam.
Das heißt: Die Abstimmung mit den Füßen ist recht klar. Die Union ist die einzige Partei, die von Christen überdurchschnittlich gewählt wurde. Das kann man als Indiz dafür nehmen, dass sie relativ gesehen eine christliche Partei ist.
DOMRADIO.DE: In der Grundwertecharta der Partei beschreibt sich sich diese als sozial-liberal und konservativ und im besten Sinne bürgerlich. Was genau verstehen wir jetzt unter diesem "bürgerlich"?
Püttmann: Im Französischen gibt es die klassische Unterscheidung zwischen dem Citoyen und dem Bourgeois. Ersterer ist der an der Republik interessierte und für sie engagierte Staatsbürger. Der zweite ist der Wohlstandsbürger, der sich eher einer für ihn günstigen, profitablen Partei anschließen wird.
Jetzt betonen die Autoren der Grundwertecharta, dass sie den ersten meinen, den republikanisch gesinnten Staatsbürger. Das Problem ist nur: Den haben natürlich auch andere demokratische Parteien, SPD, Grüne und Liberale schon mal in jedem Fall.
Folglich besteht die Gefahr, dass die Union doch eher als sozioökonomisch bürgerlich gesehen wird, also im Sinne von gutbürgerlich essen gehen oder von weißen Häusern an der Beethovenstraße als Wohnsitz und nicht im Wohnblock als Mieter. Dass sie als Partei des gehobenen Mittelstandes, zu dem sich ja auch noch ihr Vorsitzender zählt, wahrgenommen wird, also als Partei der Besserverdienenden. Damit geht die Partei ein hohes Risiko ein.
DOMRADIO.DE: Aber hat denn diese christliche Identität, die wir bei der CDU auch immer gerne möchten, noch überhaupt einen guten Ruf in der Gesellschaft oder wirkt sie angesichts der kirchlichen Skandale auf Wählerinnen und Wähler vielleicht mittlerweile sogar eher abstoßend?
Püttmann: Das ist nicht der Fall. Die Bevölkerung hat eine ganz eigene Idee vom Christlichen. Und die ist robust positiv. Allensbach hat das mit einer leider nur 2012 einmal gestellten Frage herausgefunden, wo das Image eines christlichen Politikers viel besser war als das Image eines Konservativen.
Mit dem christlichen Politiker verband man eher, dass er weltoffen, tolerant ist, sozial für Schwache engagiert, für den Umweltschutz, ausländerfreundlich und weniger national. 70 Prozent der Bevölkerung sagten im Bertelsmann-Religionsmonitor, das Christentum gehöre zu Deutschland, übrigens auch 55 Prozent der Konfessionslosen.
Und seit 20 Jahren stabil sagen 44 Prozent, christliche Wertvorstellungen seien für sie persönlich wichtig. Das heißt, man muss hier sehr zwischen Kirchlichkeit und dem Renommee des Christlichen unterscheiden.
DOMRADIO.DE: In der Analyse zum heute beginnenden Bundesparteitag der CDU warnen Sie die Partei in der Zeit-Beilage "Christ & Welt" davor, das Christliche gegen das gut Bürgerliche auszutauschen. Gibt es die Gefahr wirklich?
Püttmann: Austausch nicht – soviel Gerechtigkeit muss sein. Das C ist weiter drin und wird auch durchdekliniert. Aber man meint offensichtlich, man müsse es irgendwie durch eine zweite Identität ergänzen. Durch das "bürgerlich" besteht dann das Risiko, dass man in soziale Unterscheidungsmerkmale zurückfällt, die die CDU-Gründer ausdrücklich überwinden wollten. Die CDU muss eine Partei für Generaldirektoren und Arbeiter sein, so wie sie ja auch in der Kirchenbank nebeneinander stehen.
Das zweite Risiko ist, dass die Mitgliedschaft enttäuscht sein könnte, wenn sie den Eindruck hat, man versucht jetzt am C, an dieser Identität herumzuschrauben und sie vorsichtig zurückzunehmen, weil man sich ihrer nicht mehr sicher ist.
Denn die Mitglieder sind stark kirchlich gebunden. Rund 80 Prozent sind auch Kirchenmitglieder. Je die Hälfte davon sagten in der letzten Mitgliederstudie der Adenauer-Stiftung 2017, dass sie sich der Kirche stark verbunden oder etwas verbunden fühlen, und 64 Prozent, dass Religion für sie der tragende Grund ihres Lebens sei.
Da darf nicht der Eindruck aufkommen, dass man sich vorsichtig von der christlichen Identität wegrobbt.
DOMRADIO.DE: Was würden Sie denn der Partei raten, wenn sie sich jetzt neu aufstellen will?
Püttmann: Sie sollte die Dominanz der Mittelstandsvereinigung und des Wirtschaftsflügels wieder zurückführen. Jetzt sind ja neben Merz alle stellvertretenden Parteivorsitzenden Teil dieses Parteispektrums. Man muss breite Bevölkerungsschichten ansprechen und das auch im Personalangebot deutlich machen. Die christlich-demokratische Arbeitnehmerschaft beispielsweise steht zu wenig in der ersten Reihe.
Zweitens darf man sich von der Entkirchlichung nicht einschüchtern lassen, sondern muss die christliche Kernklientel pflegen. Dazu gehört auch, dass ein Parteivorsitzender beim Katholikentag und beim Kirchentag auftaucht, selbst wenn er nicht auf einem Podium vorgesehen ist.
Drittens gilt es das C als antitotalitären Impuls transparent zu machen; etwa jetzt außenpolitisch im Ukrainekrieg des faschistoid-imperialistischen Russlands, aber auch innenpolitisch. Der Weg von der Union zur AfD sollte erkennbar genauso weit sein wie der Weg von der SPD oder den Grünen zur AfD.
Man muss sich also scharf zum neuen Rechtsradikalismus abgrenzen und auch zum Rechtsaußen-Rand der eigenen Partei – Stichwort Maaßen und Werteunion. Und der politische Stil darf nicht giftig und plump werden wie etwa bei den Republikanern in den USA, sondern muss etwas von der Merkelschen Sachlichkeit bewahren.
Und schließlich gilt es, sich die christliche Gesellschaftslehre anzueignen, den Parteinachwuchs auch entsprechend zu bilden und das Gespräch mit den Kirchen zu pflegen. Denn es gilt mit Goethes Faust: "Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen".
Das Interview führte Martin Mölder.