DOMRADIO.DE: Vor fast einem Jahr, als die Hamas Israel überfiel, haben Sie damals schon geahnt, welchen Flächenbrand das auslösen wird?
Jörg Rensmann (Politikwissenschaftler und Leiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus NRW): Ich wusste sehr schnell, dass es eine Gelegenheit sein würde, den israelbezogenen Antisemitismus massiv in die Öffentlichkeit zu tragen, Jüdinnen und Juden anzugreifen, zu deren Unsicherheit beizutragen. Vor allem hat uns das Ausmaß schockiert, das es seit dem 7. Oktober gegeben hat.
Es vergeht kaum ein Tag, an dem es nicht zu antisemitischen Vorfällen kommt. Unsere Vorfallszahlen belegen das sehr deutlich. Vor allem bewegt sich dieser Antisemitismus seit dem 7. Oktober vergangenen Jahres auf einem vergleichsweise hohen Niveau. Wir haben in den sozialen Netzwerken schon sehr früh, am 8. Oktober 2023, schon bevor die israelische Armee auf das Hamasmassaker reagieren musste, um sich zu verteidigen, eine Legitimation des Vernichtungsantisemitismus der Hamas feststellen müssen. Das ist die traurige Wahrheit.
DOMRADIO.DE: Israel muss sich ja nahezu täglich verteidigen, um zu überleben. Viele Länder der arabischen und muslimischen Welt sympathisieren mit den Palästinensern, erkennen auch teilweise Israel nicht als Staat an. Inwieweit spielt der Judenhass da eine Rolle?
Rensmann: Ich denke, es ist tatsächlich die Hauptrolle, wie seriöse Analysen wie Nahostexperten immer wieder feststellen müssen. Denken Sie gerade an Organisationen wie die Hamas, denken Sie an eine Organisation wie die Hisbollah: Hinter beiden Organisationen steht das iranische Regime. Das hat in der Vergangenheit immer wieder sehr deutlich gemacht, dass es dem Regime dort, dass es Hamas und Hisbollah nicht um eine Zweistaatenlösung geht, sondern um die Vernichtung Israels. Das ist der Punkt. Wir haben es hier mit einem Vernichtungsantisemitismus zu tun und den entsprechenden Auswirkungen.
DOMRADIO.DE: Israel wird sich ja gerade durch viele Angriffe mit Raketen auf die Hisbollah im Libanon. Die Rede ist jetzt auch von einer Bodenoffensive. Wird der Nahe Osten, speziell Israel, dadurch zur Ruhe kommen?
Rensmann: Zunächst hat Israel das Recht, sich zu verteidigen und seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Es vermeidet dabei zivile Opfer, doch lässt sich das leider nicht immer vermeiden. Selbstverständlich ist jedes zivile Opfer eines zu viel. Doch bedenken Sie, gegen wen Israel sich verteidigen muss. Nicht gegen reguläre Armeen, sondern Fanatiker, denen die eigene Bevölkerung wirklich egal ist, die diese Bevölkerung als menschliche Schutzschilde missbrauchen. Was die Zukunft zeigen wird, das können wir von heute aus nicht beurteilen. Ich denke aber, dass der Nahe und Mittlere Osten ein anderer Ort sein wird, wenn zumindest Organisationen wie Hamas und Hisbollah nicht mehr in der Lage sind, Jüdinnen und Juden anzugreifen. Dann haben wir dort eine echte Chance für eine Demokratisierung.
DOMRADIO.DE: Es gibt viele Lösungsvorschläge zur Befriedung des Konflikts. Die Gründung eines eigenen Staates für die Palästinenser wird von außen seit Jahrzehnten ins Spiel gebracht. Sie haben es auch erwähnt. Gibt es aus Ihrer Sicht noch eine andere sinnvolle Lösung?
Rensmann: Auf mittel- und langfristige Sicht ist es natürlich richtig, an einer Zweistaatenlösung festzuhalten, die zwischen den beiden Konfliktparteien zu verhandeln wäre, möglicherweise auch unter Vermittlung unter Moderation. Aber solange beispielsweise die palästinensische Führung ihre Bevölkerung nicht zur Koexistenz mit dem Staat Israel verpflichtet und dem Terrorismus abschwört, solange wird es keinen Frieden geben. Schauen Sie einmal in ein palästinensisches Schulbuch: Die Kleinsten werden zu antijüdischem Hass und zu Gewalt erzogen. Das ist eine große Herausforderung, wo auch die Europäer die Pflicht hätten, das zu verändern, die palästinensische Autonomiebehörde zu Reformen zu bewegen, wie es die Amerikaner ebenfalls vorschlagen.
DOMRADIO.DE: Dieser Nahostkonflikt ist ein Unsicherheitsfaktor für die globale politische Entwicklung. Wie sehr sorgt Sie das?
Rensmann: Mich besorgt es sehr. Vor allem besorgt mich hier in der Bundesrepublik Deutschland die Situation der jüdischen Gemeinden und Institutionen, die vom Antisemitismus auch hier bei uns auf den Straßen und Plätzen massiv bedroht sind. Das können Sie unserem Jahresbericht immer wieder entnehmen, dass es zu einem großen Unsicherheitsgefühl beiträgt, wenn sie praktisch in Ihrem eigenen privatesten Umfeld, ihren Wohnungen bedroht werden.
Auch das muss sich verändern, wenn wir weiterhin eine offene, plurale, demokratische Gesellschaft sein wollen. Natürlich wollen wir das, aber wir müssen auch geeignete Maßnahmen treffen, um gegen diesen massiven Judenhass vorzugehen.
Das Interview führte Tobias Fricke.