Parallelen zu "klerikalfaschistischen" Strömungen der 1920er- und 1930er-Jahre und der "symbiotischen Nähe zwischen der Russisch-Orthodoxen Kirche und dem Regime unter Putin" sieht der Bonner Politikwissenschaftler Andreas Heinemann-Grüder. Mit dem vom Moskauer Patriarchen Kyrill I. vertretenen Konzept der "Russischen Welt" (Russki Mir) werde "ein ideeller Überbau für Putins Geschichtsrevanchismus und eine Retro-Zukunft bereitgestellt", so Heinemann-Grüder. Er äußerte sich in einem am Freitag in Berlin veröffentlichten Aufsatz der Schriftenreihe "Analysen & Argumente" der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung.
Die Russisch-Orthodoxe Kirche und das von Präsident Putin verkörperte politische Regime seien Teil einer globalen Gegenbewegung zum "liberalen Skript", so der Wissenschaftler am Internationalen Zentrum für Konfliktforschung Bonn (BICC). Die Kirche und Putins Regime ähnelten sich in ihrer autokratischen Struktur, dem Führerprinzip, der Betriebsweise und Loyalitätskultur. Sie ergänzten und stützten sich, profitierten voneinander, seien klientelistisch miteinander verbunden und aufeinander angewiesen.
Kirche schadet sich selbst
Das "diffuse, gerade in seiner Plakativität wirkmächtige Konzept" der "Russischen Welt", das die Russisch-Orthodoxe Kirche sich zu eigen gemacht habe, behauptet eine eigene russische Zivilisation und die "spirituelle" Einheit eines grenz- und völkerüberschreitenden russisch-orthodoxen Kulturraums, wie Heinemann-Gründer weiter darlegte. "Vorgetragen wird dies im Gestus moralischer Überlegenheit gegenüber westlicher Dekadenz und als Vertretung des wahren Christentums". Indem sie Putins Krieg gegen die Ukraine stütze, schade sich die Kirche selbst, weil sie ihren ohnehin angeschlagenen Einfluss auf die orthodoxen Gläubigen in der Ukraine und im Verhältnis zu den übrigen orthodoxen Kirchen untergrabe.
Weiter meinte Heinemann-Grüder, die Russisch-Orthodoxe Kirche kennzeichne eine "Fetischisierung der Liturgie und spiritueller Rituale". Ihre Betonung "traditioneller Familienwerte", die vermeintlich gottgewollte Dominanz des Mannes und die Ablehnung von Homosexualität seien Kennzeichen eines autoritären Charakters. "Die paranoide Fixierung auf das Thema LGBTQ ist auch Ausdruck theologischer Inhaltsleere", so der Politologe.