DOMRADIO.DE: Die Messerattacke auf den Polizisten am vergangenen Freitag hat in der Bevölkerung viel Entsetzen ausgelöst. Viele sprechen von einer Verrohung der Gesellschaft. Teilen Sie diese Beobachtung?
Ulf Günnewig (Pastoralreferent, Polizeiseelsorger in Mannheim): Gegenwärtig kann man tatsächlich den Eindruck bekommen, dass unsere Gesellschaft verroht. Allerdings könnte dieser Eindruck auch durch unsere Perspektive entstehen. Wir schauen auch genauer hin und sind weniger bereit, Gewalt und Aggression als Mittel der Auseinandersetzung zu akzeptieren.
Schaut man hingegen auf die positiven Entwicklungen, wie z.B. das interreligiöse Friedensgebet, das gestern in Mannheim im Andenken an die Gewalttat und den verstorbenen Polizisten stattgefunden hat, sieht man auch, dass wir uns besser kennenlernen und enger zusammenwachsen.
DOMRADIO.DE: Hat sich bei Polizeibeamtinnen und -beamten der Bedarf an seelsorglichem Zuspruch in den letzten Jahren erhöht?
Günnewig: Der Bedarf an seelsorglicher Begleitung ist in etwa gleich geblieben. Allerdings ist in der Polizei die Erkenntnis gewachsen, dass eine psychosoziale Beratung und Begleitung der Beamtinnen und Beamten dazu beiträgt, die Gesundheit zu erhalten und die Arbeitszufriedenheit zu erhöhen.
Das Bild des starken Polizisten, der alles kann, wurde abgelöst von einem menschlicheren Bild, das auch Schwäche und Verletzlichkeit zulässt. Denn nur wer seine Schwächen kennt, kann wirklich stark sein.
DOMRADIO.DE: Als Polizistin und Polizist muss man mit tätlichen Angriffen durch Personen rechnen, im schlimmsten Fall sogar das eigene Leben riskieren. Wie gehen die Beamtinnen und Beamten mit dieser Erfahrung im Alltag um?
Günnewig: Die Gesundheit und das eigene Leben zu riskieren, ist eine Realität des Polizeiberufs. Von Anfang an wird deshalb das Bewusstsein für die Eigensicherung gestärkt. Aber natürlich ist das auch eine sehr persönliche Frage, wie der einzelne Polizist oder die einzelne Polizistin damit umgeht.
Die Polizeiseelsorger stehen gerade auch für solche Fragen als Ansprechpersonen bereit und unterstützen dabei, diese Realität in den Alltag zu integrieren. Es handelt sich dabei um Fragen, die nicht nur einmal beantwortet werden müssen, sondern die die Polizistinnen und Polizisten ihr ganzes Berufsleben begleiten.
DOMRADIO.DE: Umgekehrt kann es auch beim Gebrauch der eigenen Schusswaffe dazu kommen, dass ein Mensch getötet wird. Wie belastend ist dies für die Ausübung des Polizeiberufs?
Günnewig: Der Einsatz der Schusswaffe ist immer die "ultima ratio", also das letzte Mittel, das nur in Ausnahmesituationen zum Einsatz kommt. Sie wird meist dann eingesetzt, um schlimmeres zu verhindern.
In der Begleitung von Polizeibeamtinnen und -beamten zeigt sich, dass die Gefühle der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins die belastenderen Faktoren bei der Ausübung des Polizeiberufs sind. Also wenn man z.B. miterleben muss, wie ein anderer Mensch zu Schaden kommt und man nicht helfend eingreifen kann.
DOMRADIO.DE: Nach dem Tod des Mannheimer Polizisten sind vielerorts Einsatzwagen der Bundespolizei mit Trauerflor unterwegs. Was sehen Sie in diesem Zeichen der Anteilnahme?
Günnewig: Die Bestürzung über den Tod des Kollegen ist groß, vermutlich nicht nur in der Polizei Baden-Württemberg, sondern im ganzen Bundesgebiet. Der Trauerflor an den Einsatzwagen macht die Solidarität innerhalb der Polizei sichtbar und schafft ein Gefühl der Verbundenheit.
Da der Polizeiberuf nur im Team und in enger Abstimmung miteinander professionell ausgeübt werden kann, begrüße ich dieses Zeichen der Anteilnahme. Und gleichzeitig ruft es ins Bewusstsein, dass eben jede und jeder Polizeibeamte sein Leben für den Beruf riskiert.
Die Fragen stellte Jan Hendrik Stens.