KNA: Frau Krisner, wie gefällt Ihnen das diesjährige Berlinale-Programm?
Inge Kirsner (Präsidentin der Ökumenischen Berlinale-Jury): Die Ökumenische Jury kann aus einem Riesenangebot, das ja dezidiert politisch ist, auswählen. Das bietet eine reiche Ausbeute. Wir haben für den Hauptpreis schon mehrere Kandidaten, und auch in den Nebensektionen gibt es klare Favoriten. Ich fände es sehr schade, wenn die Berlinale die Vielfalt ihres Programms künftig abspecken würde.
KNA: Welche Kriterien legen Sie bei der Suche nach einem Preisträger zugrunde?
Kirsner: Es gibt einen Kriterienkatalog, den wir weit oder eng auslegen können. Die Filme sollen mit der Botschaft des Evangeliums korrespondieren, sollen für Werte sensibilisieren, sie aber auch in Frage stellen. Für mich müssen preiswürdige Filme zudem eine visionäre, prophetische Kraft besitzen.
Bei unserer Bewertung kommt es darauf an, ob die Figuren eine Struktur für ihr Leben finden, zu sich kommen und die Wahrheit aushalten, dass Mittelmäßigkeit durchaus eine Durchgangsphase zu einem "normalen" Alltagsleben sein kann. Insofern tragen Filme zu jenem Erwachsenwerden bei, an dem wir fortwährend arbeiten müssen. Schön ist, dass es in den Filmen immer wieder überraschende Momente gibt, eine herausfordernde Geste oder einen tollen Satz.
KNA: Simulieren Sie doch einmal eine Jury-Diskussion!
Kirsner: Der erste Film, der mir als möglicher Preiskandidat ins Auge fiel, war "La priere" von Cedric Kahn. Der wurde aber von den katholischen Kollegen abgelehnt, die ihn als "Propagandafilm" empfanden. Gegen Gus van Sants "Don't Worry, He Won't Get Far on Foot" ließe sich dann aber einwenden, dass es sich bei dieser Darstellung des Behandlungskonzeptes der Anonymen Alkoholiker gewissermaßen ums Pendant aus evangelikaler Perspektive handelt.
KNA: Inwieweit spiegelt sich der ökumenische Gedanken in Ihrer Juryarbeit wieder?
Kirsner: Alle Mitglieder der Jury sind sehr offen; unabhängig von der Konfession argumentieren sie vom Film aus und beziehen sich bei der Beurteilung auf ästhetische Kriterien. Deshalb muss der Film nicht unbedingt eine konsistente Geschichte erzählen; ein Beispiel dafür ist "Our Madness", ein abstraktes Schwarz-Weiß-Gemälde von Joao Viana aus Mosambik. Alles ist darin sehr rätselhaft, wie in einem Traum, aber wenn man sich auf den Film einlässt, wird man von den wunderschönen Bildern mitgenommen.
KNA: Welche aktuellen politischen Themen haben für Sie Relevanz?
Kirsner: Wir sind eine internationale Jury, unsere Mitglieder kommen aus Deutschland, Luxemburg, Singapur, den Niederlanden und den USA. Wir fragen uns bei jedem Film, ob er über die kulturellen Schranken hinweg funktioniert. Der Film muss so beschaffen sein, dass wir ihn alle verstehen. Im Falle des russischen Dramas "Dovlatov" von Alexej German Jr. ergab sich das Problem, dass unsere Jurorin aus Singapur den Schriftsteller Joseph Brodsky nicht kannte. So mussten wir erst erklären, welche Stellung sein Werk in Europa innehat.
KNA: Geht das alles reibungslos vor sich?
Kirsner: Dieses Mal läuft die Juryarbeit sehr harmonisch ab. Aber ich kenne auch andere Erfahrungen, wo es schwer war, eine gemeinsame Sprache zu finden. So konnte vor zwei Jahren ein Jurymitglied die vielen Berlinale-Filme zum Thema Gender, Inter- und Homosexualität nicht ertragen. Das führte damals dann auch zu Differenzen bei der Einschätzung des Films "El Club" von Pablo Larrain.
KNA: Sie betreuen als evangelische Hochschulpfarrerin die Studierenden der Hochschulen in Ludwigsburg. Wie setzen Sie dabei Filme ein?
Kirsner: Wir feiern gemeinsam Filmgottesdienste. Dafür sichten wir gemeinsam Filme, wählen aus, konstellieren miteinander Text und Bild.
KNA: Was hat sich bei der jungen Generation in der Rezeption von Filmen verändert?
Kirsner: Die Studierenden bringen einen frischen, unverstellten Blick mit, der für mich immer wieder ein Gewinn ist. Bei "Captain Fantastic" (2016) von Matt Ross war ich beispielsweise mit der Frage beschäftigt, ob es ein "wahres Leben im falschen" geben kann. Kann der Vater mit seinen Kindern außerhalb einer kranken Gesellschaft leben? Und um welchen Preis?
Für meine Studierenden hingegen ging es darin ums Thema Tod, um Beerdigungsformen und Rituale. Eine Gruppe Studierender aus Heilbronn sah die Familie als Beispiel dafür, wie es Christen in der Welt ergeht. Auf diese Idee wäre ich nie gekommen. Ich habe den Eindruck, dass da eine hochmoralische Jugend heranwächst.
KNA: Erklären Sie sich vor diesem Hintergrund auch die #MeToo-Debatte?
Kirsner: Bei dem Wettbewerbsbeitrag "Figlia mia" von Laura Bispuri, den die Männer in unserer Jury ganz gerne mochten, habe ich mich gefragt: Wieso muss es immer wieder die Mutter und die Hure sein? Andererseits fühle ich mich bei dieser Debatte an meine schlimmsten katholischen wie evangelikalen Zeiten erinnert (Anm. d. Red.: Krisner konvertierte mit 24 Jahren vom Katholizismus zum Protestantismus), wo mir Denk- und Sehverbote erteilt wurden.
Ich will mir aber keine ideologischen Scheuklappen aufsetzen lassen. So selbstbewusst sind wir Frauen inzwischen längst. Wir schauen uns diese Filme an, aber wir werden uns nicht so behandeln lassen. Nachdem ich auf meinem Lebensweg mehrere Freikirchen kennengelernt hatte, Methodisten, Baptisten, auch Pfingstler, bin ich jetzt in der größten "Freikirche" gelandet. In diesem Pluralismus fühle ich mich aufgehoben.
Heidi Strobel