DOMRADIO.DE: US-Präsident Donald Trump hat Massenabschiebungen von Millionen von Eingewanderten und Schutzsuchenden angekündigt. Wie blicken Sie auf die aktuellen Entwicklungen in den USA, von denen auch viele Mexikaner betroffen sind?

Padre José Filiberto Velázquez Florencio (Gründer des Menschenrechtszentrums Centro de Derechos Humanos "Minerva Bello" in Mexiko): Ich halte diese Pläne für unmoralisch. Mexiko und Zentralamerika sind seit vielen Jahren von Gewalt und Armut schwer gezeichnet, das hat die Menschen dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Millionen Menschen haben einfach versucht, zu überleben. Wenn sie jetzt zurückgeschickt werden, sind sie in Lebensgefahr.
Und man darf nicht vergessen: Die Auswanderer schicken sehr viel Geld nach Hause und sichern dort das Überleben ihrer Familien. In manchen Ländern machen diese Rücküberweisungen einen erheblichen Teil des Bruttosozialprodukts aus. All das ist jetzt in Gefahr und wird die Krise in den Ländern noch verschärfen.
Ich halte es für unmoralisch, wenn ein Land, das sich auf die christliche Tradition beruft, diese Menschen abschiebt. Die Mehrheit arbeitet hart, zahlt Steuern und trägt zur Wirtschaft bei. Dass sie jetzt abgeschoben werden sollen, ist eine Schande.
DOMRADIO.DE: Ihre Diözese Chilpancingo-Chilapa liegt im mexikanischen Bundesstaat Guerrero, bekannt durch den Badeort Acapulco. Allein 2023 gab es dort 1.890 Morde. Das gewaltsame Verschwinden von 43 Studierenden in Ayotzinapa im Jahr 2014 ging weltweit durch die Presse. Wie muss man sich den Alltag unter solchen Umständen vorstellen?
Padre Filiberto: Bei uns gibt es mehr als 20 unterschiedliche Gruppen des organisierten Verbrechens. Lange Zeit war Guerrero der zweitgrößte Opium-Produzent weltweit, daraus wurde Heroin für den US-Markt hergestellt. Aber seit in den USA immer mehr Fentanyl konsumiert wird, haben sich die Drogenhändler hier auf andere illegale Geschäfte verlegt. Kein Gouverneur, kein Bürgermeister, kein Stadtrat, kein Geschäftsmann und kein Ladenbesitzer kann bei uns eine Entscheidung ohne die Zustimmung der Kartelle treffen. Und wer sich dem widersetzt, wird getötet.

Die Touristen, die vielen Kreuzfahrtschiffe, die zu uns kommen, merken davon nichts, aber das ist wie eine Kulisse. In Acapulco werden jeden Tag Taxifahrer und Verkäufer ermordet. Die Wirtschaft geht kaputt, weil niemand investieren will, die Menschen bewaffnen sich, um sich verteidigen zu können. Der Staat ist hier einfach nicht mehr präsent. Wir hoffen sehr, dass sich unter der neuen Präsidentin Claudia Sheinbaum die Sicherheitslage verbessern wird.
DOMRADIO.DE: Nach Zahlen des "Centro Católico Multimedial” (CCM), das Gewalttaten gegen Kirchenangehörige registriert, wurden seit 1990 in Mexiko 80 Priester getötet. Stehen Priester und Kirchenbedienstete im Fokus der Gewalt?
Padre Filiberto: Priester, Ordensleute, Laien und Katecheten sind vor allem da tätig, wo es Konflikte gibt. Wir fühlen uns dem Evangelium verpflichtet und kämpfen für Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden. Aber wer bei uns Missstände anprangert, legt sich mit Kartellen und Politikern an.

Im Oktober wurde Padre Marcelo in Chiapas nach der Sonntagsmesse erschossen, weil er sich für Menschenrechte einsetzte und damit die Interessen gewisser politischer Gruppen gestört hat. Auf mich hat man im Oktober 2023 geschossen. Das ist unsere Realität: Menschenrechte zu verteidigen und konsequent das Evangelium zu leben ist sehr gefährlich. Unser Volk leidet und wir leiden mit ihm.
DOMRADIO.DE: Was passierte bei diesem Überfall?
Padre Filiberto: Ich habe 2017 das Menschenrechtszentrum "Minerva Bello" gegründet, das sich für die Rechte von Gewaltopfern engagiert. An jenem Tag im Oktober 2023 hatte ich mich mit einigen Studenten getroffen, die nach einer Demonstration von der Polizei angegangen wurden. Als ich abends mit meinem Auto nach Hause fahren wollte, kam mir plötzlich ein Motorrad mit zwei Männern entgegen, einer von ihnen schoss auf mich: Eine Kugel traf meinen Reifen, die andere meine Windschutzscheibe, aber zum Glück schlug die Kugel auf der Beifahrerseite ein, sonst wäre ich jetzt vielleicht tot.
Heute bin ich immer in Begleitung von zwei Bodyguards und mit einem gepanzerten Auto unterwegs. Ich finde das schwierig, denn eigentlich bräuchten alle Menschen bei uns solche Sicherheitsmaßnahmen oder noch besser wäre, niemand bräuchte sie.
DOMRADIO.DE: Wie lebt es sich mit der Gefahr, dass das jeden Tag wieder passieren könnte?
Padre Filiberto: Im vergangenen Juli wurde ich von bewaffneten Männern in einem Auto verfolgt. Ich war wie gelähmt. Zum Glück passierte nichts, denn ich war mit meinen Bodyguards und im gepanzerten Auto unterwegs und wir konnten uns an einem Militärposten in Sicherheit bringen.
Ich fange an zu akzeptieren, dass dies das Opfer ist, das ich bringen muss, weil ich mich für Frieden, Gerechtigkeit und ein besseres Land einsetze. Die Soldaten haben die Täter übrigens nicht verfolgt, sie sagten uns nur, wir sollten uns keine Sorgen machen, wir hätten schließlich ein gepanzertes Fahrzeug. Ich empfinde das als Missachtung unserer Situation. Was mir hilft, ist das Gebet, das ist für mich lebenswichtig. Ansonsten müsste ich wohl viele Stunden zur Psychotherapie.
DOMRADIO.DE: Haben Sie nie darüber nachgedacht, sich zurückzuziehen, zu Gunsten eines ruhigeren Lebens ohne Angst?
Padre Filiberto: Das Evangelium konsequent zu leben hat nichts damit zu tun, wo du bist. Es gibt immer irgendwo Ungerechtigkeit und würde ich in den USA leben, hätte ich jetzt Probleme mit der Polizei, weil ich mich für Migranten einsetzen würde. Das ist meine Berufung.
Aber natürlich suche ich mir meine Freiräume, um Kraft zu tanken, ich will kein Märtyrer werden. An den Wochenenden bin ich meist in Mexiko-Stadt, wo ich jetzt Menschenrechte studiere. Das sind für mich Auszeiten.
DOMRADIO.DE: 2017 haben Sie das Menschenrechtszentrum "Minerva Bello" gegründet, das sich für die Rechte von Gewaltopfern einsetzt. Wie sieht Ihre Arbeit aus?
Padre Filiberto: Wir dokumentieren Menschenrechtsverletzungen, Fälle von Polizeigewalt und "Verschwundenen". Wir bieten Rechtsberatung für Gewaltopfer und deren Angehörige an. Wir veranstalten Workshops und Kurse für Studierende, Betroffene, Sicherheitskräfte oder auch Migrantenorganisationen an, wir informieren über Rechte, Gesetze und Strukturen von Gewalt und wir bieten eine psychisch-medizinische Betreuung an. Dabei geht es mittelfristig vor allem um die Verarbeitung und Vergebung, damit Betroffene aus ihrer Opferrolle herausfinden.
DOMRADIO.DE: Wie wichtig ist Vergebung und ist das wirklich immer möglich?
Padre Filiberto: Die Situation ist schwierig, weil Täter und Opfer häufig in den gleichen Gemeinden leben und sonntags im gleichen Gottesdienst sitzen. Jesus bat am Kreuz auch um Vergebung für seine Folterer und ich vertraue darauf, dass wir vor Gott Gerechtigkeit finden werden.
Ich kenne eine Mutter deren Sohn "verschwand", wir wussten, dass einer der Täter im Gefängnis saß und sie wollte ihn sehen. Man hätte erwartet, dass sie ihn anklagen und ihm Vorwürfe machen würde, aber sie wurde ganz ruhig und überließ es Gott. Ich glaube, nur so kann man weitermachen: Indem man sich auf Gott verlässt und versucht, weiterzuleben. Ich bin überzeugt, dass das ist die tiefe Bedeutung von Vergebung ist, jenseits von Vergessen und Ungerechtigkeit.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.