Priestermangel in Deutschland spitzt sich zu

Gemeinden stehen vor dem Kollaps

Wenn ein Priester geht, dann ist das für die Gemeinde nicht nur ein Abschied von ihrem Pfarrer. Immer weniger Seelsorger müssen sich um immer mehr Pfarreien kümmern. Aber es muss andere Wege geben, sagt ein Priester.

Autor/in:
Angelika Prauß
Liturgische Gewänder / © Julia Steinbrecht (KNA)
Liturgische Gewänder / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Die Verabschiedungsmesse Ende Juni war noch einmal ganz großes Kino: eine bis auf den letzten Platz besetzte Kirche; eine Gemeinde, die voller Inbrunst Lieder wie "Wo Menschen sich vergessen" und "Großer Gott", anstimmt; 16 Messdiener am Altar, Kinderchor, das Bläserensemble, alle Kirchenmusiker der Gemeinde und der Regionalkantor an der Orgel.

Sie alle waren gekommen, um den Bonner Pfarrer Jörg Harth zu verabschieden. Die Messe wirkte wie ein großes Finale, was an katholischem Leben - nicht nur in der Bonner Pfarrei - einmal möglich war.

Jörg Harth, Pfarrer der Pfarrei Sankt Rochus und Augustinus in Bonn / © Angelika Prauss (KNA)
Jörg Harth, Pfarrer der Pfarrei Sankt Rochus und Augustinus in Bonn / © Angelika Prauss ( KNA )

"Allen war klar - wir lassen es noch mal richtig krachen", sagt der 55-jährige Seelsorger. Alle Beteiligten hätten gespürt: "Das war auch ein Abschied von einer bestimmten Form von Kirche, die wir so wohl nicht mehr erleben werden. Das ist das Erschreckende dabei - es war auch der Abschied von einem bestimmten Gemeindeleben."

Zwölf Jahre war Harth Pfarrer in seiner Pfarrei im Bonner Westen, die drei Kirchen und eine Krankenhauskapelle umfasste. Schon lange war klar, dass sich dies in Zukunft ändern würde: Durch das Konzept der Pastoralen Einheiten im Erzbistum Köln und die Umsetzung der Strukturreform wird es ab Herbst nur noch einen leitenden Pfarrer für einen großen Stadtbezirk - rund 24.000 Katholiken in 12 Kirchen - geben. Seit Jahren hat Harth seine Pfarrei auf die Veränderung vorbereitet. Er übernimmt nun eine andere Aufgabe.

Spiritueller Proviant

In den zwölf Jahres wurde Vieles auf den Weg gebracht, was er nun zurücklasse. Seiner Gemeinde habe er spirituellen "'Proviant' mitgegeben für den Weg durch die Zeit". Nicht ohne Grund heiße es: Wenn es am Schönsten ist, soll man gehen. "Ich kann mit einem satten Gefühl gehen."

Auch Abraham, der Urvater des Glaubens, sei aufgebrochen ins Ungewisse. "Wir haben nicht alles in der Hand", sagt Harth. Ob die Engagierten und andere Gemeindemitglieder sich bei seinem Nachfolger weiter einbringen, wird sich zeigen. "Es ist die freie Entscheidung eines jedes einzelnen."

Die Unsicherheit, wie es nun in der Pfarrei mit Harths Nachfolger, aber auch mit der Kirche allgemein weitergeht, gelte es auszuhalten. Allein im Erzbistum Köln sind im vergangenen Jahr 17 Priester in den Ruhestand gegangen; die Situation wird sich also weiter verschärfen.

Kein Weg zurück

Nicht nur Harth sieht die Kirche und das Gemeindeleben vor gewaltigen Veränderungen. Der Leipziger Theologe Eberhard Tiefensee hat jüngst das Ausmaß dieses epochalen Umbruchs mit der Reformation verglichen. Der christliche Glaube an eine trotz allem gute Zukunft könne nur ein Angebot sein. "Was die anderen mit diesem Angebot machen, entscheiden sie selbst." Es gebe keinen Weg zurück "in die vermeintlich guten alten Zeiten", so Tiefensee.

Krampfhaft an alten Formen festhalten

Harth beobachtet dennoch "ein großes Beharrungsvermögen auf allen Ebenen". Oft werde gefordert, die Bischöfe sollten fortschrittlicher sein. "Aber auch in den Gemeinden wird aus Angst vor Neuem und aus der Angst vor dem Verlust an Gewohntem krampfhaft an alten Formen festgehalten", beobachtet der Seelsorger. "Die Gläubigen spüren, dass ihre oft kleine Welt sich verändert und Verluste unvermeidbar sind."

Dabei kann man nichts wiederbeleben, was längst tot ist. Natürlich habe auch er durch regelmäßige Messen in allen Kirchen und spirituelle Angebote etwas aufrecht erhalten, das es irgendwann so nicht mehr geben wird, sagt Harth mit Blick auf seine noch relativ gut besuchten Gottesdienste. "Wenn dann in der Gemeinde der Pfarrer geht, bekommt das nochmal eine ganz andere Dynamik - dann kommt der Umbruch, der ohnehin gekommen wäre."

Bis 2030 "ausgeblutet"

Der Mainzer Psychologe und Theologe Valentin Dessoy glaubt, dass die Kirche bis 2030 "ausgeblutet" sein werde, dass das Modell Kirche früher oder später kollabiere. Es werde in ein Konstrukt investiert, das keine Zukunft mehr habe, erklärte er Ende 2022 in einem Interview auf der christlichen Plattform "jesus.de".

"Kirche verändert sich viel, viel schneller, als dass die Bereitschaft wächst, in neue Formen zu investieren." Es gebe keine Strategie gegen den Umbruch. Deshalb gelte es loszulassen und zu schauen, was Neues entstehe. "Es geht nicht mehr, das Neue aus dem Alten herzuleiten", sagte Dessoy, der 2022 den Strategiekongress "Auflösung - Kirche reformieren, unterbrechen, aufhören?" mitorganisiert hat. 

Leben fördern

Sinkende Kirchenzugehörigkeit, Gleichgültigkeit oder offene Abneigung gegen die Kirche, Frust über die fehlende Teilhabe von Frauen, nichtssagende Predigten - auch das sind für Pfarrer Harth Realitäten, denen sich die jeweils Verantwortlichen stellen müssten. 

"Es ist doch zum Weglaufen", was da mitunter gepredigt werde - "mit frommer Sauce drüber, banal und systemerhaltend". Eine Predigt müsse "existenziell" sein und Leben fördern. Menschen müssten mit ihren Nöten und Bedürfnissen ernstgenommen werden, ihnen ein Raum der Begegnung geboten werden. "Sie müssen im Gottesdienst eine Stärkung erfahren." 

Gerade für Priester aus anderen Kulturkreisen sei dies eine Herausforderung. Freiwerdende Stellen mit Priestern aus anderen Kulturkreisen zu besetzen, ist für Harth eher ein Notstopfen, der aber nichts am grundsätzlichen Problem ändere.

Auch wenn die Getauften eigentlich "die" Kernkompetenz in Sachen Gottvertrauen und Zuversicht hätten - ihnen selbst scheinen diese abhanden gekommen zu sein, beobachtet der Seelsorger. "Wer in der Kirche glaubt denn wirklich, dass - wenn etwas Vertrautes stirbt - am Ende etwas Neues kommen kann; dass etwas anders, aber dennoch gut werden kann?"

Quelle:
KNA