DOMRADIO.DE: Wie haben Sie diesen Fall denn in den Medien verfolgt?
André Stiefenhofer (Kirche in Not): Es war interessant, das Ganze zu beobachten, weil die Medien sich sehr stark darauf konzentriert haben, dass die junge Frau den islamischen Kleidungsvorschriften nicht gehorcht hat, deshalb verhaftet wurde und dann wahrscheinlich - die Polizei bestreitet das zwar - aber alles deutet darauf hin, misshandelt wurde und an diesen Misshandlungen gestorben ist. Aber man muss natürlich auch sagen, dass diese junge Frau Kurdin war. Das heißt, zum einen eine ethnische Minderheit im Iran und zum Zweiten war sie auch sunnitisch, das heißt eine religiöse Minderheit im Iran, der ja eine schiitische Theokratie ist.
Und diese beiden Faktoren wurden in der Berichterstattung nicht genug beachtet, weil man sich sehr stark darauf konzentriert hat, dass westliche Normen missachtet worden sind. Aber im Grunde ist es eine Frage, wie der Staat im Iran mit seinen Minderheiten umgeht. Und da ist das tatsächlich ein krasses Beispiel dafür, dass Minderheiten offensichtlich im Iran nicht so geschützt sind, wie es selbst die iranische Verfassung eigentlich möchte.
DOMRADIO.DE: Eine ultra-konservative Regierung unter Präsident Ebrahim Raisi, ein repressives Regime, eine Sittenpolizei. Wie steht es denn generell um die Menschenrechte im Iran?
Stiefenhofer: Da muss man unterscheiden zwischen dem, was die Verfassung vorschreibt und zwischen dem, was dann tatsächlich gehandhabt wird. Die Verfassung ist da eigentlich relativ liberal, wenn man jetzt mal das gesamte Setting einer Theokratie voraussetzt, die ja keine demokratischen Maßstäbe hat.
Aber zum Beispiel ist die Religionsfreiheit eigentlich auch für Minderheiten garantiert. Das heißt, die alteingesessenen christlichen Kirchen wie zum Beispiel Armenier oder Assyrer dürfen ihren Glauben leben. Auch Juden übrigens, was sehr interessant ist, weil der Iran ja sehr oft mit Antisemitismus und handfesten Drohungen gegen Israel in den Nachrichten ist. Auch Juden sind von der Verfassung her eigentlich geschützt und dürfen ihre Religion ausüben.
Das heißt, die Verfassung ist ja eigentlich viel liberaler als das, was tatsächlich gemacht wird. In der Realität liegt die Macht im Iran bei den Geistlichen. Es gibt eben diesen Wächterrat und den obersten geistlichen Führer, die die totale Macht haben. Und auf der anderen Seite ist so eine demokratische Parallelstruktur, würde ich das mal nennen, geschaffen worden, an deren Spitze der Präsident steht und die auch ein Parlament beinhaltet, das gewählt wird.
Aber dieses Parlament hat keine wirkliche Macht, ebenso wenig wie der Präsident keine wirkliche Macht hat. Man sieht allerdings schon, dass es nicht egal ist, wer Präsident ist. Als Hassan Rohani noch Präsident war, war die Situation im Land auf jeden Fall liberaler. Da hat die Religionspolizei schon mal eher weggeschaut. Jetzt mit Ebrahim Raisi an der Macht scheint das wieder anders zu sein.
DOMRADIO.DE: Drei Menschen sind bei den Protesten, ausgelöst durch den Fall Masa Amiri, auch getötet worden. Zeigt dieses gewaltsame Vorgehen der iranischen Polizei einmal mehr, dass Menschenrechte systematisch mit Füßen getreten werden?
Stiefenhofer: Auch hier würde ich genauer hinschauen und die Frage stellen: Wer demonstriert da eigentlich? Als wir 2018 die große Frage hatten nach der Aufhebung des Kopftuchverbots im Iran, waren das von Studenten, von der Elite getragene Demonstrationen, die tatsächlich auch die zumindest die Metropolen wirklich aufgerüttelt haben. Aus den Medienberichten kann ich nicht genau erkennen, ob das diesmal auch der Fall ist, ob hier wirklich eine breite Front dahintersteht.
Was ich eher vermute, aber das ist tatsächlich nur eine Vermutung von mir, ist, dass es sich hauptsächlich um Demonstrationen der kurdischen Minderheit handelt. Darauf lassen zum Beispiel die Berichte schließen, dass die Demonstrationen hauptsächlich auch im kurdischen Gebiet im Westen des Landes stattfinden. Und hier ist es natürlich so, dass nicht nur die religiöse Komponente eine Rolle spielt, sondern dass der Staat hier auch besonders hart durchgreift, weil die Kurden nicht nur im Iran, sondern auch in der Türkei und im Irak starke Autonomiebestrebungen haben und der Staat hier natürlich verhindern möchte, dass diese Proteste sich zu einer wirklichen Gefahr für die territoriale Integrität des Irans ausweiten.
Das heißt, hier würde ich noch mal genau hinschauen, inwieweit das jetzt Proteste sind, die tatsächlich nur durch die Kurden betrieben werden oder inwieweit hier tatsächlich das gesamte Volk, die Mehrheit im Iran, demonstriert.
DOMRADIO.DE: Im Iran leben 84 Millionen Menschen. Das ist zahlenmäßig so ungefähr vergleichbar mit Deutschland. Davon sind 98 % Muslime. Nur etwa 800.000 davon sind Christen, also eine Minderheit. Sie haben gesagt, Religionen dürfen zumindest laut Verfassung ausgelebt werden. Aber wie sieht es denn aus mit Konvertiten?
Stiefenhofer: Die Frage der Konversion ist tatsächlich einer der großen Menschenrechtsfragen im Iran. Apostasie ist verboten, das heißt kein Muslim darf zu einem anderen Glauben überwechseln. Der Iran ist eigentlich eine jahrhundertealte Kulturnation. Das merkt man dem Land auch tatsächlich noch an, das merkt man unter anderem daran, dass selbst in einer Theokratie die Bildung sehr hoch geschätzt wird, dass es ein reges akademisches Leben im Iran gibt. Also da sind auch sehr viele positive Dinge zu vermelden. Auf der anderen Seite hat man eben diese repressive geistliche Führung, die eine wirkliche Freiheit eigentlich nicht zulässt.
Das Interview führte Elena Hong.