DOMRADIO.DE: Was sagen Sie dazu aus ethischer Sicht. Sollten Kinder und Jugendliche ein Impfangebot bekommen?
Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl (Mitglied im Ethikrat, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin): Im Grundsatz ja. Ich begrüße das sehr, dass Kinder und Jugendliche ein Impfangebot bekommen und gemeinsam mit ihren Eltern darüber entscheiden, ob sie ein solches Impfangebot annehmen.
Unverzichtbare Voraussetzung, das muss man immer betonen, ist, dass Sicherheit und Wirksamkeit gewährleistet sind. Darüber entscheiden die zuständigen Behörden, die EMA (Europäische Arzneimittelbehörde, Anm. d. Red.) und darüber entscheidet auch die STIKO (Ständige Impfkommission, Anm. d. Red.) oder gibt eine Empfehlung ab.
Der zweite Punkt: Wenn diese unverzichtbaren Voraussetzungen gegeben sind - das kann ich als Ethiker nicht beurteilen, sondern das müssen die Fachleute beurteilen - dann stellt sich die Frage, wem nützen solche Impfungen. Da denke ich, ist es ausgesprochen wichtig zu sehen, dass den Nutzen auch die Kinder und Jugendlichen selbst tragen. Nicht nur die Gruppenimmunität profitiert davon, dass zwar dann auch, aber das ist nicht das Entscheidende. Vielmehr entscheidend ist der Nutzen für die Kinder und Jugendlichen.
Zwar können sie, Gott sei Dank, selber nicht schwer oder nur sehr selten an Covid-19 erkranken. Aber entscheidend ist, dass die Lockdown-Maßnahmen der letzten 14, 15 Monate zu schweren Schäden geführt haben, auch und gerade bei Kindern und Jugendlichen.
Dass sie nicht in die Schule können, dass sie keinen Sport treiben können, dass sie kein Jugendfreizeit angebot haben, dass sie sich nicht mit ihren Freundinnen und Freunden treffen können, hat starke gesundheitliche Schädigungen hervorgebracht. Wenn ein Impfangebot hilfreich ist, um diese Schäden abzuwenden, dann haben selbstverständlich auch Kinder und Jugendliche davon einen unmittelbaren Nutzen und das gilt es in den Blick zu nehmen.
DOMRADIO.DE: Nun sagt die Ständige Impfkommission, es lägen zu wenige Daten vor. Das Risiko für Kinder und Jugendliche an Corona schwer zu erkranken sei gering, geringer als mögliche Nebenwirkungen einer Impfung. Das muss man erst mal ernst nehmen, oder?
Lob-Hüdepohl: Aber selbstverständlich muss man das ernst nehmen. Ich habe das ja eben gesagt, Voraussetzung ist immer Sicherheit und Wirksamkeit. Und wenn die STIKO - das ist da offensichtlich auch sehr umstritten - zu einer anderen Einschätzung kommt als etwa die EMA - auch die EMA lässt sich ja von Fachleuten beraten - dann ist das, wie gesagt, ernst zu nehmen.
Aber das Hauptargument, soweit ich es von Seiten der STIKO kenne, ist, dass Kinder und Jugendliche keinen unmittelbaren Nutzen haben, sondern dass der Nutzen allein bei der Mehrheitsbevölkerung, also bei den Erwachsenen liegt. Diesem Argument würde ich doch widersprechen wollen.
Ich habe es eben angedeutet: Ich teile die Einschätzung und finde es ausgesprochen plausibel, dass das Erkrankungsrisiko an Covid-19 sehr gering ist. Das können wir sehen, aber es ist nicht das einzige Risiko, was Kinder und Jugendliche tragen. Und ich gestehe freimütig, dass ich das doch auch erstaunlich finde. Wir halten 10, 12 Millionen Kinder und Jugendliche seit über einem Jahr gewissermaßen schon - mal frech formuliert - beinahe in Geiselhaft, weil auch sie natürlich zur Transmission beitragen wie alle Menschen. Sie können nicht in die Schule gehen. Sie können wesentliche Grundvollzüge ihres Alltags nicht vollziehen.
Und jetzt, wo ein Impfangebot möglich ist, wo sie also auch von einer Impfung profitieren könnten, da kommen auf einmal diese schweren Bedenken. Das verstehe ich nicht ganz. Hier würde ich bei einer Risiko-Nutzen-Abwägung doch eher empfehlen, dass man auch die psychosozialen Folgen der Kinder und Jugendlichen mit in den Blick nimmt. Dann wird man möglicherweise zu einer anderen Güterabwägung kommen müssen.
DOMRADIO.DE: Wie kommt es denn, dass in anderen Ländern solche Diskussionen gar nicht in dem Ausmaß geführt werden wie bei uns in Deutschland? Zum Beispiel in den USA und Kanada werden Zwölfjährige ja schon geimpft. Warum wird die Debatte hier in Deutschland so erhitzt geführt?
Lob-Hüdepohl: Das weiß ich nicht so recht. Vielleicht herrscht da ein pragmatischeres Verhältnis dazu. Wobei ich auch ganz offen sagen will, ich finde es gut, dass darüber öffentlich debattiert wird. Das gehört zu einer offenen Gesellschaft, dass darüber auch kontrovers diskutiert wird, dass dieses Für und Wider auch öffentlich geführt wird.
Es ist meiner Ansicht nach wichtig, dass die betroffenen Eltern, aber auch die betroffenen Kinder und Jugendlichen über Für und Wider in Kenntnis gesetzt werden, dass sie sich selber eine Meinung bilden können.
Von daher finde ich den öffentlich geführten Streit darüber, die Streitigkeit eher förderlich als hinderlich. Auch wenn es manchmal dramatisiert wird. Von daher bin ich eher gelassen. Aber man sollte, wie gesagt, die beiden Pro- und Contra-Seiten in Ruhe abwägen und das setzt voraus, dass sie auch öffentlich erwogen werden.
Das Interview führte Dagmar Peters.