DOMRADIO.DE: Wie genau kann die Heilige Schrift zur Linderung von psychischen Leiden beitragen?
Prof. Dr. Georg Juckel (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie): Jesus ist jemand, der viele Heilerfolge hatte. Die Evangelien zeugen davon. Wir haben nach und nach begriffen, dass die Heilmethoden von Jesus der modernen Psychotherapie ähneln. Insbesondere bei existenziellen Fragen hat Jesus ganz bestimmte Vorgehensweise eingeschlagen. Etwa nach dem Sinn des Lebens oder was kommt nach dem Tod, was ist ein gelingendes Leben oder wie kann ich glücklich werden?
Bei Gelähmten oder psychisch Kranken hat er zum Beispiel die Berührung, das Handauflegen, die Zuwendung angewandt. Er hat immer wieder deutlich gemacht, dass nicht er als Person geholfen hat, sondern etwas Höheres, nämlich der Glaube.
DOMRADIO.DE: Liegt bei Ihnen die Bibel in der Praxis? Und wie gehen Sie vor, wenn der Patient oder die Patientin nicht an Gott glaubt?
Prof. Dr. Paraskevi Mavrogiorgou (Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie): Ich habe die Bibel immer da. Ich bin dahin gekommen, weil ich versucht habe, davon wegzukommen, den Patienten immer als Ärztin zu sehen. Wir werden sowohl im Studium als auch in der Facharztausbildung "geprimt", den Patienten zu sehen, so schnell wie möglich eine Diagnose zu stellen und dann eine Behandlungsempfehlungen zu geben.
Dabei verlieren wir den Blick dafür, dass uns gegenüber nicht eine Diagnose sitzt, sondern ein Mensch. Dieser Mensch hat ganz verschiedene Facetten, Gefühle und Gedanken. Dieser Mensch ist nicht die Krankheit, sondern das ist ein Teil.
Dann habe ich angefangen, mich mehr um den Menschen zu kümmern. Ich habe gefragt: Wie sieht es zu Hause aus? Wer versorgt die Kinder? Wie empfinden Sie die aktuelle politische Lage? Wie ist es mit dem Glauben? Alles, was uns als Menschen ausmacht.
Dadurch erfährt man mehr, denn jede Krankheit kommt nicht von ungefähr. Sie hat was mit dem Menschen und seiner Biografie zu tun, mit seiner Erfahrung, mit den Gegebenheiten aktuell und in der Vergangenheit. Das muss man berücksichtigen, damit man eine gute und individuelle Therapieempfehlung geben kann.
Dazu gehört auch die Bibel. Wenn ich merke, dass jemand gläubig und religiös ist und eine gewisse Affinität hat, warum sollte ich die Bibel nicht als Bewältigungsmöglichkeit nutzen?
DOMRADIO.DE: Wie ist das mit Ihrem eigenen Glauben zusammengekommen?
Mavrogiorgou: Ich bin als Griechisch-orthodoxe mit dem Glauben aufgewachsen. Ich habe im Rahmen meiner ärztlichen Ausbildung früh erfahren, dass Religion in der Psychiatrie nichts zu suchen hat. Es hieß, das ist was Individuelles, da darf man nicht ran und das sollte man als Therapeut nicht nutzen, das wäre eine Grenzüberschreitung.
Das kann natürlich grenzüberschreitend sein. Aber ich gehe nicht mit dem Vorsatz an die Patienten ran, dass ich missionarisch meinen Glauben verbreiten möchte. Ich will den Menschen verstehen, und wenn er eine gläubige oder religiöse Seite hat, dann kann es ein Teil der Therapie sein, muss es aber nicht.
Juckel: Wir sind immer wieder von der Fachwelt kritisiert worden. Der Vorwurf lautet, dass wir die Grenzen zwischen Psychotherapie und Seelsorge verschleifen. Meine liebe Frau ist griechisch-orthodox. Es gibt in der griechischen Orthodoxie die sogenannte orthodoxe Psychotherapie. Der Krankheitsbegriff ist im christlich-orthodoxen Glauben ein Stück weit anders.
Ich bin protestantisch groß geworden und wurde von meiner Mutter sehr geprägt, die eine sehr gläubige Christin war und sich intensiv damit beschäftigt hat.
Ich habe Philosophie studiert und habe mich nach und nach mit den Grundlagen eines philosophischen Gottesglaubens auseinandergesetzt. Mich hat immer beschäftigt, was möglicherweise ein Grund für das alles ist? Ich bin deswegen auch immer wieder in katholischen Gottesdiensten gewesen, in Klöstern, in Kirchen. Ich bin ein Suchender.
DOMRADIO.DE: Von Ihnen ist die Aussage "Jesus war der erste Psychotherapeut" zu lesen?
Mavrogiorgou: Diese menschliche und liebende Zuwendung ohne Bedingungen ist für mich das A und O in den alltäglichen Begegnungen.
Juckel: Jesus steht, jetzt kurz vor der Weihnacht mit seiner Geburt und Menschwerdung für Hoffnung. Das ist etwas, was wir als Ärzte und Therapeuten immer wieder zu gewärtigen haben. Menschen kommen zu uns in die Praxen oder die Krankenhäuser und haben Hoffnung. Sie möchten gerne Vertrauen und Zuwendung erhalten.
Deswegen ist das deutsche Gesundheitssystem gegenwärtig mit dieser Schnelllebigkeit im Fließbandsystem, der Unfreundlichkeit, wo jeder Mensch nur noch ein Objekt ist, ganz das Gegenteil von dem, was wir beide umsetzen und was Jesus in der Bibel vorgelebt hat.
Das Interview führte Lara Burghardt.