Katholische Nachrichten-Agentur: Herr Preisendörfer, Ihre Zeitreise ins 18. Jahrhundert in die Epoche Goethes kam unter dem Titel "Als Deutschland noch nicht Deutschland war" beim Publikum sehr gut an. Nun geht es noch mal rund 300 Jahre weiter zurück in die Vergangenheit. Wo hätten Sie selbst lieber gelebt: als Zeitgenosse Goethes oder Augenzeuge Luthers?
Bruno Preisendörfer (Publizist): Na ja, wenn ich mich zwischen diesen beiden Epochen entscheiden müsste, würde ich eindeutig die Goethes bevorzugen. Da ging es zwar auch chaotisch und brutal zu. Aber die seelische Konfiguration und die allgemeinen Umstände erscheinen uns heute doch viel vertrauter als Luthers Lebensumfeld.
KNA: Gibt es trotzdem etwas, was diese beiden nicht gerade unbedeutenden Epochen in der deutschen Geschichte miteinander verbindet?
Preisendörfer: Ich finde es höchst amüsant, dass sich in beiden Fällen große Geschichte verdichtet auf ein paar Quadratkilometern und dazu in machtpolitischer Provinz abspielt. Luther wirkte wesentlich von Wittenberg aus. Nicht sehr weit davon entfernt avancierte Weimar in der Goethe-Zeit zu einem Zentrum der Klassik.
KNA: Ist das Zufall?
Preisendörfer: Müsste man vielleicht einmal genauer untersuchen. Aber ich denke, es hat mit der Nationenbildung Deutschlands zu tun, das ja lange Zeit aus einer Fülle an Fürstentümern und Kleinstaaten bestand. Deswegen fehlte eine alles beherrschende Kapitale, wie Frankreich sie mit Paris hatte.
KNA: Sie selbst stammen aus Unterfranken, bezeichnen sich scherzhaft als "entlaufenen Katholiken". Was fasziniert Sie an Martin Luther?
Preisendörfer: Eigentlich treibt mich seit den 90er Jahren die Frage um, wie aus dem einfachen Mönch, der er ja anfangs war, diese historische Riesengestalt wurde.
KNA: Und – haben Sie Antworten gefunden?
Preisendörfer: Martin Luther hatte ein enormes Selbst- und Sendungsbewusstsein, ähnlich wie die alttestamentarischen Propheten, die ebenfalls einem göttlichen Auftrag zu folgen glaubten. In der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern, aber auch seinen Mitstreitern wuchs die Bedeutung des historischen Luther. Aus seinem Streben nach Reformen in der Kirche wurde ein Kampf gegen die Kirche ...
KNA: ... den er unter anderem mit donnernden Predigten führte.
Preisendörfer: Luther war ein wortgewaltiger Mensch, bisweilen auch ein echter Abkanzler, der mit viel Einfallsreichtum auf allen Ebenen herumpolterte – womit er gewissermaßen dem "Sound" seiner Zeit entsprach, der kulturgeschichtlich als Grobianismus charakterisiert worden ist. Gegen diesen Grobianismus gab es damals schon Kampfschriften, die ihrerseits so wortgewaltig wie wortgewalttätig waren.
KNA: Die theologischen Debatten, die Luther anstieß, wirken bis heute fort. Was davon war dem "gemeinen Volk" von damals zugänglich?
Preisendörfer: Die Ablassfrage natürlich. Im Übrigen denke ich, dass der Mann auf der Straße und seine Frau mit spitzfindigen theologischen Diskursen weder etwas anfangen konnten noch zu tun haben wollten. In gewisser Weise ist das ja auch heute noch so.
KNA: Wie meinen Sie das?
Preisendörfer: Was laut auf die Trommel geschlagen wird, findet eher Gehör als die leisen Töne oder der gelehrte Streit der Theologen, auch wenn dieser Streit bei der Herausbildung der Konfessionen unvermeidlich war.
KNA: Ab diesem Herbst gedenkt die Evangelische Kirche in Deutschland des 500. Jahrestags der Reformation. Die katholische Kirche scheint das hier und da mit gemischten Gefühlen zu beobachten. Ist ein unbefangener Blick auf Luther möglich?
Preisendörfer: Es ist und bleibt ein Unterschied, ob ich als Protestant oder Katholik auf Luther schaue. Oder nehmen Sie einen Agnostiker. Den wird das von Gott her motivierte Sendungsbewusstsein des Reformators nicht überzeugen.
KNA: An Luther scheiden sich also weiter die Geister.
Preisendörfer: Ach, so negativ würde ich das gar nicht sehen. Im Vergleich zu vergangenen Jahrhunderten hat sich vieles entspannt. Und die Fülle der heute kursierenden Luther-Bilder wird der historischen Figur sicher eher gerecht als eine Vereinnahmung der einen oder anderen Partei beziehungsweise Konfession.
KNA: Zu Luthers Zeiten war der Glaube eine prägende gesellschaftliche Konstante. Das ist schon lange nicht mehr so – stattdessen versetzt die Menschen heute im Nahen und Mittleren Osten, aber auch in Europa oder den USA ein religiös verbrämter Terrorismus in Angst und Schrecken. Zeigt sich hier eine dunkle Seite von Religion?
Preisendörfer: Religiöse Bewegungen können die schrecklichsten Dinge bewirken. Aber historisch betrachtet haben sie immer auch eine zivilisierende Wirkung gehabt, haben Ordnung gestiftet und Recht gesetzt, auch wenn wir aus heutiger Sicht nicht alles nachvollziehen können. Manche unserer Diskussionen über religiösen Fundamentalismus empfinde ich deswegen selbst als fundamentalistisch.
KNA: Warum?
Preisendörfer: Weil sie nur eine Seite von Religion wahrnehmen. Man sollte die Dialektik des Themas nicht unterschätzen.