domradio.de: Wie kam die evangelische Kirchengemeinde auf die Idee, einen katholischen Publizisten als Prediger am Reformationstag einzuladen?
Dr. Andreas Püttmann (Politikwissenschaftler und katholischer Publizist): Letztlich durch mein Buch "Gesellschaft ohne Gott. Risiken und Nebenwirkungen der Entchristlichung Deutschlands". Das ist 2010 erschienen. Der evangelische Pfarrer Dr. Karl-Heinz Bassy hat es gelesen und mich zu einem Vortrag in die Gemeinde eingeladen. Daran hat man sich nun erinnert und gedacht, dass es eine gute Idee wäre, das Reformationsjubiläum mit einem Katholiken als Prediger zu beginnen.
domradio.de: Wenn man als Gastredner eingeladen ist, ist man manchmal ein bisschen geneigt, sich anzubiedern. Was ich so aus dem Manuskript entnommen habe, ist dem nicht unbedingt so. Worum ging es denn?
Püttmann: Unversöhnlich war es natürlich nicht, dann hätte ich ja eine falsche Zusage gegeben. Aber an solchen Erinnerungstagen geht es schon darum, auch die Schattenseiten der eigenen Geschichte nicht zu verschweigen. Da hat die evangelische Kirche einiges zu bieten: die Staatsnähe über viele Jahrhunderte oder die Zeitgeistsynchronisierung. Wenn Sie allein an die letzten hundert Jahre denken: vom kaisertreuen Nationalprotestantismus und den Imperialismus-Predigern über die Deutschnationalen bis hin zu den "Deutschen Christen", die zeitweise eine Zweidrittelmehrheit in den Synoden hatten. Dann gab es nach dem Krieg in der DDR die Kirche im Sozialismus – wieder mit Zweidrittelmehrheit. Und in der Bundesrepublik: von den Sozialdemokraten in den 1980er Jahren zu den Grünen. Also ein politischer Zickzackkurs, der auch von Sozialpsychologen als Ausdruck eines Transzendenzmangels bezeichnet wurde.
Das Verhältnis des Protestanten zu Gott, der ja quasi direkt zu Gott "per Du" ist - ohne die starke Institution, die wir im katholischen Christentum haben -, stellt für einige eine Überforderung dar, und dann gewinnen innerweltliche Heilsangebote an Gewicht. Auch bei der deutschen Wiedervereinigung: Einerseits erwarb sich die evangelische Kirche große Verdienste als Herbergsmutter der Revolution, andererseits zögerte sie gegenüber einer schnellen Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik unter dem Grundgesetz. Da sind die Katholiken doch schneller drauf zu gegangen, während die Evangelische Studentengemeinde Westdeutschlands die Schließung des Brandenburger Tors forderte, damit sich die DDR als sozialistischer Staat erneuern könne. Darüber sollte man an so einem Festtag auch nicht schweigen.
domradio.de: Also ganz schön harter Tobak. Jedenfalls was zum Denken. Wie hat denn die Gemeinde darauf reagiert?
Püttmann: Also wenn ich an dem Punkt stehen geblieben wäre, dann wahrscheinlich verschnupft. Aber ich habe natürlich im weiteren Verlauf auch gewürdigt, was die Reformation an Freiheit in die Geistesgeschichte Europas eingebracht hat. Die EKD hat sich ja selbst 2006 als Kirche der Freiheit bezeichnet. Das heißt zunächst mal nicht 'anything goes', sondern hieß in der historischen Situation, dass das Individuum sich gegenüber der Gemeinschaft emanzipiert und dass sich die Religionsfreiheit, die aus der Religionsspaltung zumindest anfanghaft hervorging, zur Mutter der Grundrechte werden konnte.
Die Katholiken sind ja stärker ordnungsorientiert – nicht allein durch die hierarchische Kirchenstruktur. Das hat auch seine Vor- und Nachteile. Die Nachteile führten zum Beispiel im schlimmsten Fall dazu, dass der europäische Faschismus in katholischen Ländern - anders als in Deutschland, wo die Katholiken ja resistenter gegenüber dem Nationalsozialismus waren - besser Fuß fasste, wenn Sie mal an Spanien, Italien, Kroatien, die Slowakei und andere denken. Da wurde die Freiheit des Individuums mit Füßen getreten.
Es gibt sozusagen katholische und evangelische Stärken und Schwächen. Sinnvoll ist, dass man die Stärken zusammenbringt und vor allen Dingen, dass man aus den historischen Irrtümern Demut lernt, so meine Schlussfolgerung. Und dann hat die Gemeinde zu meiner Berührung nach dieser Predigt mit anhaltendem, lebhaftem Beifall reagiert. Ich bin eigentlich gar kein Anhänger von Beifall in der Kirche, aber in diesem Moment, wo es so eine ungewöhnliche Konstellation gab, war es ein sehr schönes Zeichen der Ökumene.
domradio.de: Am Ende steht dann ja auch ein gemeinsamer Auftrag für Protestanten und Katholiken. Wie sieht der aus?
Püttmann: Das eine habe ich ja schon gesagt, dass wir demütig bleiben. Dass die konfessionellen Ressentiments und die Versuchung, es genau zu wissen meinen, was Gott will – dieses "Deus vult!" (Gott will es) – uns nicht mehr so schnell über die Lippen kommt, nachdem wir unsere historischen Sünden gegeneinander und auch in der politischen Geschichte Europas erkannt haben. Wir sollten uns immer wieder daran erinnern, dass Gott sagt: "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken. So hoch wie der Himmel über der Erde ist, so hoch sind meine Gedanken über eure Gedanken." Also: Demut! Dann aber auch Streitbarkeit.
Der christliche Streit ist von Anfang an auch ein Lebenselixier der Wahrheit gewesen; wo nicht mehr gestritten wird und wo Wahrheiten von dem verordnet werden, der gerade die Macht hat, da ist es meistens dem Menschen schlecht ergangen. Dann braucht es natürlich das gemeinsame Zeugnis: Den Eifer im Bekenntnis des Glaubens, gerade in der jetzigen Situation Europas, das braucht man wohl nicht näher zu begründen. Wir stehen vor einer großen Herausforderung. Wir wollen nicht nachher wieder - wie der Rat der EKD 1945 im Stuttgarter Schuldbekenntnis - sagen müssen: "Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben."
Das Interview führte Christoph Paul Hartmann.