DOMRADIO.DE: Gerade in der Kirche, würde man denken, regiert die Nächstenliebe. Diskriminierung und Ausgrenzung haben da keinen Platz. Wie sehen Sie das?
Nathalie Eleyth (Dozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ruhr-Universität Bochum zu rassismuskritischer Theologie): Für christliche Menschen, die sich weiß positionieren, ist es mitunter schmerzhaft, sich mit Rassismus in kirchlichen Strukturen auseinanderzusetzen, weil das das eigene Selbstbild massiv stört. Es wird angenommen, der christliche Glaube würde vor Ideologien der Ungleichwertigkeit immunisieren. Es gibt eine wirkmächtige Überzeugung unter Christinnen und Christen, sich auf der Seite des Guten zu verorten. Dabei wird außer Acht gelassen, dass rassistische Machtverhältnisse strukturell überall in der Gesellschaft verankert sind: in unserem Wissen, unserer Sprache, unserer Sozialstruktur.
Es gibt keine gesellschaftlichen Teilbereiche, die frei sind von rassistischer Diskriminierung. Egal ob wir über den Wohnungsmarkt, den Arbeitsmarkt, Bildungs-, Justiz- oder Gesundheitssystem sprechen. Daraus folgt, dass Kirche auch ein Ort ist, wo auf der einen Seite Menschen rassistische Verletzungen erleben und auf der anderen Seite Menschen rassistische Zuschreibungen reproduzieren.
DOMRADIO.DE: Sie forschen ja unter anderem auch zu rassismuskritischer Theologie. Warum sind diese Themen so wichtig?
Eleyth: Rassismuskritik ist eine Haltung gegen Rassismus bei gleichzeitiger Anerkennung, dass man als Person oder als Institution immer auch Teil der Verhältnisse ist, die man selber kritisiert. Rassismuskritische Theologie zu betreiben, bedeutet anzuerkennen, dass Rassismus strukturell in Gesellschaft und Kultur verankert ist und dass Theologie und Kirche an der Produktion und Aufrechterhaltung solcher rassistischer Denkmuster beteiligt waren und gegenwärtig sind.
Besonders wichtig ist, dass man die Vorstellung aufgibt, dass die weiße, neo-europäische Theologie die normensetzende, maßgebliche Theologie ist. Das möchte ich vor allem auch den aktuellen Theologiestudenten mit auf den Weg geben. Was wir im Studium vielfach nicht kennenlernen, sind zum Beispiel Theologien des globalen Südens. Die verorten wir ganz gerne als kontextuelle Theologien und erheben uns dabei zum Standard und markieren andere Theologien als abweichend.
Rassismuskritik versucht darauf hinzuweisen, dass alle Theologien kontextuell verortet sind und es keine Theologie gibt, die für alle maßgeblich ist.
DOMRADIO.DE: Theologien sind ein Beispiel, wie Rassismus auch in der Wissenschaft reproduziert wird. Gibt es da noch weitere, inhaltliche Beispiele für dieses Thema in der rassismuskritischen Theologie?
Eleyth: Ja, in theologischen oder kirchlichen Texten, die sich mit rassistischer Diskriminierung oder Ideologien der Menschenfeindlichkeit auseinandersetzen, wird häufig kommentiert man solle Menschen, von denen rassistische Diskriminierung ausgeht, zurechtweisen und sie darauf hinweisen, dass das im kirchlichen, christlichen Kontext überhaupt nicht geht.
Aber gleichzeitig sollen wir Barmherzigkeit walten lassen. Das ist ein ganz typisches Argumentationsmuster in der protestantischen Theologie. Wir sollen zwischen Person und Werk trennen. Viele kirchliche, theologische Texte, die sich mit Rassismus befassen, denken aus einer rein weißen Perspektive heraus und fragen nie, was es für 'Menschen of Color' bedeutet, mit Botschaften der Entwürdigung konfrontiert zu werden. Und rassismuskritische Theologie versucht, genau diese Sensibilität in die Theologie hineinzubringen.
DOMRADIO.DE: Neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit führen sie ja auch Workshops durch, mit zum Beispiel Religionspädagogen und -pädagoginnen, um für dieses Thema zu sensibilisieren. Wie erleben Sie da die Reaktionen der Teilnehmenden?
Eleyth: Ich gebe meistens Workshops für Rassismussensibilität für weiße Menschen und wenn das Thema der weißen Privilegien oder Rassismus als gesamtgesellschaftliches System, angesprochen wird, erlebe ich meistens ganz viele Abwehrmechanismen. Ich habe da für mich mal so sechs Klassiker identifiziert.
Der erste ist der "Mythos der Gleichheit", wenn Menschen behaupten es gäbe keine Unterschiede zwischen den Menschen. Oft wird Rassismus auch skandalisiert. Es ist immer schwer, gerade im deutschen Kontext Rassismus anzusprechen, weil aufgrund der deutschen Geschichte das Wort Rassismus ganz eng mit genozidärer Tötung von Menschen oder mit rechtsterroristischen Anschlägen assoziiert wird. Der Rassismusvorwurf zählt als emotional schwerwiegender als das Verhalten, was den Vorwurf ausgelöst hat.
Drittens wird Rassismus in die Vergangenheit verschoben. Durch Entnazifizierung und Demokratisierung wäre Rassismus überwunden. Oder es wird viertens argumentiert, dass in den USA doch alles viel schlimmer sei. Fünftens wird gesagt, dass auch weiße Menschen Rassismus erfahren. Das nennt man den Mythos des umgekehrten Rassismus. Und sechstens gibt es eine ganz klare Leugnung von rassistischen Strukturen und Täterinnen und Täter werden in Schutz genommen. All das sind Akte von weißer Zerbrechlichkeit, die dazu dienen sollen, unbeschädigt das Selbstbild aufrechtzuerhalten.
DOMRADIO.DE: Es ist also schwierig für die Menschen, sich selber damit auseinanderzusetzen und auch anzuerkennen, dass man rassistisches Gedankengut in sich hat. Das ist der erste Schritt. Was wären denn aus Ihrer Sicht mögliche weitere Schritte hin zu einer antirassistischen Kirche?
Eleyth: Da würde ich zwischen zwei Ebenen unterscheiden. Zum einen kann das Individuum, das Teil der Kirche ist, sich mit den eigenen Rassismen und der Wirkweise von Rassismus auseinandersetzen, und zu der Anerkennung kommen, dass Rassismus nicht nur darin besteht, andere verbal herabzusetzen oder körperlich anzugreifen. Bohrende Nachfragen nach der Herkunft oder vermeintliche Annahmen über Begabungen und Talente, die mit Abstammung und Herkunft verbunden sind, auch das ist Rassismus.
Auf institutioneller Ebene gibt es auch ganz unterschiedliche Möglichkeiten. Aus meiner Perspektive sollte durchgesetzt werden, dass niemand mehr in Deutschland Theologie studieren kann, ins Pfarramt, ins Lehramt oder auch in den Bereich der Gemeindepädagogik gehen kann, ohne sich obligatorisch in seiner Ausbildung mit Rassismus, Kolonialismus und anderen Formen der Unterdrückung auseinandergesetzt zu haben. Es braucht eine Anlaufstelle für rassistische Diskriminierung, die wir momentan zumindest in der evangelischen Kirche nicht haben.
Ich wünsche mir eine aktivistische Kirche, die sich mit lauter, prophetischer Stimme für einen antirassistischen Kampf einsetzt und sich auch radikal ehrlich mit ihrer eigenen Verstrickung in Rassismusverhältnisse befasst. Kirche sollte sich kompromisslos für diejenigen einsetzen, die täglich von rassistischer Diskriminierung betroffen sind. Aus meiner Perspektive ist Kirche da noch zu leise. Den aktivistischen Kampf an erster Stelle führt Kirche da nicht.
Das Interview führte Elena Hong.