Der steile Aufschwung der Rechtspopulisten bei der Bundestagswahl beschert der deutschen Politik eine historische Zeitenwende. Bundeskanzlerin Angela Merkel kann zwar voraussichtlich vier weitere Jahre regieren - aber nur mit dem größten Verlust in der Geschichte ihrer Union und möglicherweise dem Wagnis einer Jamaika-Koalition mit FDP und Grünen. Der bisherige Koalitionspartner SPD stürzt auf ein Rekordtief und strebt in die Opposition. Und die AfD triumphiert - erstmals seit 1961 sitzt nun eine rechtsnationale Partei im Parlament. Als Profiteur der Schlappe der großen Koalition wird sie drittstärkste Kraft. Die CSU will weiteren AfD-Erfolgen nun mit einem konsequenteren Rechts-Kurs begegnen.
Der FDP gelingt nach vier Jahren die Rückkehr in den Bundestag. Mit den ebenfalls vertretenen Grünen und Linken ergibt sich erstmals seit den 50er Jahren wieder ein Sechs-Fraktionen-Parlament.
Freidemokraten und Grüne zeigten sich prinzipiell gesprächsbereit über die Chancen eines im Bund noch nie erprobten schwarz-gelb-grünen Dreierbündnisses, sahen dafür aber große Hürden. Eine rechnerisch mögliche Fortsetzung der großen Koalition schloss die SPD aus. "Es ist völlig klar, dass der Wählerauftrag an uns der der Opposition ist", sagte Merkels Herausforderer, SPD-Chef Martin Schulz. Er will Parteivorsitzender bleiben und strebt nicht den Fraktionsvorsitz an.
Keine Minderheitenregierung
Die Amtsinhaberin sagte, sie habe sich ein besseres Ergebnis erhofft, aber die Union habe ihre strategischen Ziele erreicht: Sie sei stärkste Kraft und habe den Auftrag zur Regierungsbildung. Spekulationen über eine mögliche Minderheitsregierung wies sie zurück. "Ich sehe das nicht. Ich habe die Absicht, dass wir zu einer stabilen Regierung in Deutschland kommen", sagte Merkel in der "Berliner Runde" von ARD und ZDF.
Die Bildung eines Dreier-Bündnisses mit FDP und Grünen dürfte wegen deren teils gegensätzlichen Zielen aber nicht einfach werden. FDP-Chef Christian Lindner will eine Jamaika-Koalition von Inhalten abhängig machen. "Wir sind nicht zum Regieren verdammt, aber wir sind natürlich bereit, politische Verantwortung zu übernehmen", sagte er in der "Berliner Runde". Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt rechnete mit schwierigen Gesprächen: "Wir werden kein einfacher Partner sein." Auch angesichts dieser Schwierigkeiten appellierte die Union an die SPD, sich Gesprächen nicht zu verweigern. Der Einigungsdruck ist groß, denn von einer Neuwahl könnte die AfD noch stärker profitieren. Dass es vor der Wahl in Niedersachsen am 15. Oktober konkret wird, gilt als unwahrscheinlich.
SPD stürzt auf Rekordtief
Nach den Hochrechnungen (ARD 22.30 Uhr/ZDF 23.00 Uhr) fällt die Union auf ihr schwächstes Ergebnis seit 1949: 32,9 Prozent (2013: 41,5). Die einstige Volkspartei SPD stürzt nach zwei bereits schwachen Wahlen auf ein Rekordtief von 20,6 bis 20,7 Prozent (25,7). Die AfD, 2013 noch knapp gescheitert, legt mit 13 Prozent auf knapp das Dreifache zu (4,7). Die seit 2013 nicht mehr im Parlament vertretene FDP überspringt mit 10,4 bis 10,6 Prozent die Fünf-Prozent-Hürde (4,8). Die Linken verbuchen mit 8,9 bis 9,1 Prozent (8,6) ein leichtes Plus. Das Gleiche gilt für die Grünen mit 8,9 bis 9,1 Prozent (8,4).
Der Bundestag wird nach den Hochrechnungen von Infratest dimap (ARD) und Forschungsgruppe Wahlen (ZDF) deutlich größer mit 690 bis 700 Sitzen (2013: 631): CDU/CSU 239 bis 243 (2013: 311), SPD 149 bis 153 (193), AfD 94 bis 96, FDP 76 bis 77, Grüne 65 bis 67 (63) und Linke 65 bis 66 Mandate (64). Die Wahlbeteiligung sahen ARD und ZDF bei 75,9 bis 76,5 Prozent (71,5).
"Neonazis im Bundestag"
Der Erfolg der AfD reiht sich ein in den seit Jahren zu beobachtenden Aufschwung von Rechtspopulisten in Europa. Merkel sagte, die Union wolle die Wähler der AfD zurückgewinnen "durch Lösung von Problemen, durch Aufnehmen ihrer Sorgen, auch ihrer Ängste zum Teil, aber eben vor allen Dingen durch gute Politik". Schulz wies ihr eine "große Verantwortung" für den Aufstieg der Rechtspopulisten zu: "Die systematische Verweigerung von Politik hat ein Vakuum entstehen lassen, das die AfD teilweise geschickt gefüllt hat."
Vor allem in Ostdeutschland ist die AfD stark. Dort ist sie laut ARD mit 21,1 bis 22,9 Prozent zweitstärkste Kraft, im Westen kommt sie auf 10,7 bis 11,3. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn klagte: "70 Jahre nach Kriegsende sitzen wieder Neonazis im Bundestag." Der Zentralrat der Juden sieht Deutschland vor der größten demokratischen Herausforderung seit 1949. In Berlin vor der Wahlparty der AfD sowie in anderen Städten gab es Demonstrationen gegen die Partei mit jeweils mehreren Hundert Teilnehmern.
Martialische Drohungen von Gauland
AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland machte eine Kampfansage an die künftige Bundesregierung: "Sie kann sich warm anziehen. Wir werden sie jagen", sagte er. "Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen."
Die AfD hatte es in der Endphase des Wahlkampfs immer wieder geschafft, mit provokanten Äußerungen Aufmerksamkeit zu erregen, etwa zur Flüchtlingspolitik. Nach Expertenansicht war der Wahlkampf von Furcht geprägt. 70 Prozent der Befragten äußerten laut Infratest dimap die Angst, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet, 60 Prozent, dass die Kriminalität zunimmt, 38 Prozent, dass zu «viele Fremde» kommen. Merkel punktete der Forschungsgruppe Wahlen zufolge damit, dass sie Stabilität und Führungsstärke vermittelte.
Wegen des AfD-Ergebnisses könnte der Unionsstreit über Merkels Flüchtlingspolitik wieder aufflammen, zumal die CSU in Bayern nach einer Hochrechnung des Bayerischen Rundfunks auf 39 Prozent gefallen ist (2013: 49,3). CSU-Chef Horst Seehofer hat die von Merkel abgelehnte Obergrenze für den Flüchtlingszuzug einst als Bedingung für eine Koalitionsbeteiligung genannt. Es komme nun darauf an, die offene Flanke auf der rechten Seite zu schließen, sagte er wohl auch mit Blick auf die Landtagswahl 2018, "am besten durch eine Politik, die gewährleistet, dass Deutschland Deutschland bleibt."
Unmut über Merkels Flüchtlingskurs
Dem Vernehmen nach wurde in CDU-Runden erneut Unmut über Merkels Flüchtlingskurs und das lange Ignorieren der AfD angesprochen. Dort wurde auch über Finanzminister Wolfgang Schäuble und dessen mögliche Nachfolge von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) gesprochen. Mit seiner langen Parlamentserfahrung bringe er die Voraussetzung mit, hitzige Debatten mit der AfD im Griff zu behalten.