Religionssoziologe analysiert Bedeutungsschwund der Kirchen

Pluralität statt Dogmen

Nach Hochrechnungen von religionskritischen Experten ist nur noch weniger als die Hälfte der Bevölkerung Mitglied der beiden großen Kirchen. Der Kirchensoziologe Gert Pickel fordert eine plurale Kirche, um dem Trend entgegenzusteuern.

Leere Kirchenbänke / © Maleo (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Die Zahlen, die heute gemeldet wurden, sind Hochrechnungen einer Forschungsgruppe, die von der religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung gegründet wurde. Wenn sie korrekt sind, ist das eine historische Zäsur. Aber wie belastbar sind diese Ergebnisse denn aus wissenschaftlicher Sicht? 

Prof. Dr. Gert Pickel (Religions- und Kirchensoziologe an der Uni Leipzig): Im Großteil sind die relativ belastbar. Man greift schlicht und ergreifend dabei auf Daten zurück, die von kirchlichen Ämtern herausgegeben werden. Allein die Hochrechnung, das ist jetzt natürlich ein bisschen mutig. Aber wahrscheinlich ist es auch nicht wirklich mutig, denn der Entwicklungstrend, den wir schon über viele Jahre haben, geht ja in diese Richtung.

Prof. Dr. Gert Pickel, Religions- und Kirchensoziologe an der Uni Leipzig

"Wenn man dann an dieser Stelle - da, wo Kirche eben wichtig ist, im sozialen Bereich, in der Nähe zu Kindern, zu Menschen - sich so etwas anlastet, trifft das natürlich ins Mark einer Kirche."

DOMRADIO.DE: Dass die Zahl der kirchlich verfassten Christen und Christinnen abnimmt, das ist weiß Gott nicht neu. Aber das Tempo hat noch mal deutlich angezogen. Warum ist das so? Warum verlieren die Kirchen seit etwa 60 Jahren so stark an Zuspruch und das immer schneller? 

Hintergrund: Abwärtstrend der Kirchenmitglieder in Deutschland

Experten haben hochgerechnet, dass zur Zeit weniger als die Hälfte der deutschen Bevölkerung Mitglied in der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland ist. "Es ist eine historische Zäsur, da es im Ganzen gesehen, seit Jahrhunderten das erste Mal in Deutschland nicht mehr "normal" ist, Kirchenmitglied zu sein", sagt Sozialwissenschaftler Carsten Frerk von der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (Fowid).

Kirchenaustritte (Symbolbild) / © Wolfgang Radtke (KNA)
Kirchenaustritte (Symbolbild) / © Wolfgang Radtke ( KNA )

Pickel: Was wir beobachten können, ist einerseits natürlich ein Grundtrend der Säkularisierung, den will ich gar nicht in der Breite ausführen. Er hat aber eben auch viel damit zu tun, dass man an vielen Stellen irgendwie nicht zur Gesellschaft zu passen scheint. Über 70 Prozent der jungen Menschen sagen: Kirche passt einfach nicht in die Moderne. Und das ist genau das Klientel, das verloren geht. Wir haben es ja mit einem generationalen Wandel zu tun. Es ist ja nicht so, dass überwiegend ältere Leute austreten, sondern es ist eher so, dass die Leute meistens schon ab einem Alter von 25 Jahren die Kirche verlassen, wenn sie merken, dass die Kirche auch etwas kostet und sie sowieso mit Religion nicht allzu viel am Hut haben. Und diese Entwicklung ist natürlich dadurch, dass es gerade die jüngeren Leute sind, eine Tendenz-Entwicklung, die in der Zukunft auch weitergeht. 

DOMRADIO.DE: In München hat ein Missbrauchs Gutachten für großen Ärger über die katholische Kirche gesorgt. Im Erzbistum Köln war das ähnlich. Wie sehr verstärken solche Ereignisse diesen Trend noch? 

Pickel: Im Endeffekt kann man sagen, das ist natürlich alles andere als gut, wenn man gerade an dieser Stelle schlechte Presse hat und vor allem zeigt, dass man damit nicht umgehen kann. Es ist auf jeden Fall etwas, was innerhalb der Kirche für große Probleme sorgt, was aber eben bei Leuten, die sowieso schon geschwankt haben, natürlich den endgültigen Stoß gibt. Personen, die von Kirche überzeugt sind, bleiben meist. Das sind diejenigen, die jetzt dafür kämpfen, dass es anders wird. Aber wenn sie eben sowieso schon im Glauben nicht mehr so stark verankert waren, dann ist das natürlich ausgesprochen schlecht.

Es ist vor allem deswegen schlecht, weil Kirche und Religion ja gerade sehr, sehr stark mit dem Sozialen zusammengebracht werden. Und wenn man dann an dieser Stelle - da, wo Kirche eben wichtig ist, im sozialen Bereich, in der Nähe zu Kindern, zu Menschen - sich so etwas anlastet, trifft das natürlich ins Mark einer Kirche. 

DOMRADIO.DE: Während wir sprechen, tobt der Krieg in der Ukraine weiter. Europa erlebt die größte Flüchtlingsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Halten Sie es da für denkbar, dass das Christentum als Sinngeber und Halt wieder erstarken könnte und mit ihm die Kirchen? Oder scheint Ihnen das eher unwahrscheinlich? 

Pickel: Die Frage ist für uns empirische arbeitende Sozialwissenschaftler in der Tat momentan völlig offen. Normalerweise würde man ja sagen: Not lehrt beten. Jetzt kann man natürlich sagen: Das ist ja nur eine Not, die man in der Ferne sieht. Und da distanziert man sich teilweise noch. Ob das eine Wirkung hat, ist durchaus fraglich. Wo allerdings Kirchen natürlich durchaus ihre Kraft zeigen können - und vielleicht auch gegen das momentan nicht so gute Image anarbeiten können - ist natürlich, Aktivitäten im Bereich der Geflüchtetenhilfe unternehmen. Denn da sind Kirchen ja häufig Anlaufstellen für Geflüchtetenprojekte, für Aufnahmen, für das Kümmern um den Anderen, für Nächstenliebe. Ich denke, die Sinnsuche kommt noch nicht so ganz - so lange der Krieg noch nicht zu uns kommt, was wir ja nicht hoffen wollen. 

Prof. Dr. Gert Pickel, Religions- und Kirchensoziologe an der Uni Leipzig

"Es geht ja um die Menschen. Und die gegenwärtige Probleme der Menschen sind halt manchmal andere als die vor 50 Jahren. Da kann ich nicht mit den gleichen Maßnahmen operieren."

DOMRADIO.DE: Was könnten Ihrer Meinung nach die beiden christlichen Kirchen denn tun, um diesen Aderlass wenigstens abzuschwächen? 

Pickel: Es ist natürlich immer richtig zu sagen, man soll sich nicht nach dem Zeitgeist richten. Man muss nur aufpassen, dass man da nicht irgendwann zurückbleibt. Es ist immer die Mischung. Die ist natürlich am schwierigsten zu erreichen. Man muss auch den gegenwärtigen Problemen nahe sein. Es geht ja um die Menschen. Und die gegenwärtige Probleme der Menschen sind halt manchmal andere als die vor 50 Jahren. Da kann ich nicht mit den gleichen Maßnahmen operieren.

Da, wo Kirche sozial verankert ist, bereit ist, auch individuelle Überzeugungen von Menschen aufzunehmen - deren Engagement, deren Aktivität -, also wo sie eine plurale Kirche ist, da ist sie meist relativ erfolgreich. Da, wo man aber sehr, sehr stark an Dogmen festhängt, sehr, sehr stark allgemein für alle verträglich argumentiert, da ist sie natürlich nicht sehr erfolgreich. Da sehen wir, wenn wir auch Gemeinden sehen: Diejenigen, die es schaffen, verschiedene Gruppen, die verschiedene Interessen haben - das ganz normale für eine moderne Gesellschaft - zusammenzubringen und nebeneinander auch Angebote zu entwickeln, bei denen haben wir lebendige Kirchen. Das wird wahrscheinlich das Ziel der Zukunft sein müssen, dass man eben der pluralen Gesellschaft auch Raum bietet und sie einbindet, ohne sie zu erziehen. 

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Quelle:
DR
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