domradio.de: Welches Interesse verfolgt Ungarn denn mit dem Grenzzaun? Praktisch alle Flüchtlinge wollen in wohlhabendere EU-Länder weiterreisen.
Gerhard Albert (Geschäftsführer und Leiter des katholischen Osteuropahilfswerks Renovabis): Ungarn ist ein Teil der sogenannten Balkanroute, die von Griechenland über Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich, Deutschland und dann gegebenenfalls noch weiter reicht. Ungarn sieht sich durch das Dubliner Abkommen zur Verteilung der Asylbewerber wegen seiner Außenposition in einer ungerechtfertigt schwierigen Situation. Es glaubt, auf diese Weise gegenüber der Europäischen Union Aufmerksamkeit erregen zu müssen, aber natürlich glaubt die Regierung auch nach Innen demonstrieren zu müssen, dass sie diese angeblich nicht zu bewältigende Herausforderung für Ungarn anzugehen bereit ist. Das ist der Hintergrund.
domradio.de: Noch stehen ja angeblich erst wenige Hundert Meter des Grenzzaunes. Wie viel Angst haben denn die Menschen in Ungarn vor Zuwanderung, also davor Abstriche an ihrem eigenen Lebensstandard machen zu müssen?
Albert: Der Lebensstandard ist nicht hoch, das muss man gerechterweise sagen. Es sind die Befürchtungen natürlich da, ob sie berechtigt sind, kann ich nicht beurteilen. Es ist eine Stimmung im Land, die einfach damit zusammen hängt, dass Ungarn überrascht worden ist, dass die Menschen schlicht und einfach darauf nicht vorbereitet worden sind. Bei einem Land, das eigentlich immer mehr Auswandererland als Einwanderungsland war, wo das monatliche Durchschnittseinkommen bei 500 Euro liegt, da können natürlich Stimmungen entstehen. Sie können auch politisch ausgenutzt werden von der extremen Rechten, von Jobbik.
Darauf reagiert Orban natürlich auch mit diesen Maßnahmen. Wobei wir uns alle darüber einig sind: Ein Zaun löst keine Probleme. Das hat er weder an der innerdeutschen Grenze vor Jahrzehnten getan, noch tut er es im Westjordanland.
Ob der Zaun tatsächlich auf voller Länge von 175 Kilometer entlang der serbischen Grenze ausgebaut oder ob das jetzt irgendwelche demonstrativen Maßnahmen sind, kann ich von hier aus nicht entscheiden. Entscheidend ist aber, dass sehr viele Menschen in Ungarn in den letzten Monaten sich sehr solidarisch zu den Flüchtlingen verhalten haben. Darüber muss auch geredet werden.
domradio.de: Welche Initiativen gibt es denn da?
Albert: Es gibt eine Fülle von Initiativen, die mitten aus der Gesellschaft kommen. Wir haben gute Beziehungen nach Szeged, die Großstadt direkt an der serbischen Grenze, dort gibt es die katholische Jugendstiftung, eine Laienorganisation katholischer Jugendlicher, die mit der Dompfarrei in Verbindung steht. Sie haben bereits in den letzten Monaten 15.000 Lebensmittelpakete verteilt. Sie überlegen sich jetzt, ob sie nicht noch mehr tun können, vor allem um den Flüchtlingen zu helfen, in Kommunikation mit ihren Landsleuten zu treten. Zum Beispiel durch Bereitstellung von Ladestationen für Handys. Dann sind die Malteser zu nennen, die in Ungarn seit der Wende sehr stark vertreten sind. Sie leisten vor allem an den Bahnhöfen erste Hilfe und verteilen Notrationen. Es gibt in Szeged auch eine NGO, die sich darauf spezialisiert hat, Flüchtlingen zu helfen. Da sind viele Freiwillige, auch Ärzte und Rechtsanwälte aktiv. Das ist ein Gegenbild zu dem, was sonst in der Aufregung über diese nun tatsächlich sehr problematischen Entwicklungen leicht untergeht.
Das Interview führte Christian Schlegel.