epd: Vor einem Jahr sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihren umstrittenen Satz "Wir schaffen das" und ließ Tausende Flüchtlinge nach Deutschland, die in Budapest gestrandet waren. In der Folge kamen Hunderttausende. War die Entscheidung damals richtig?
Manfred Rekowski: Was die Kanzlerin vor einem Jahr entschieden und treffend als "humanitären Imperativ" bezeichnet hat, finde ich nach wie vor absolut richtig und angemessen. In einer Situation, in der humanitäre Mindeststandards für Tausende Menschen nicht mehr eingehalten werden, muss man auch mit ungewöhnlichen Maßnahmen reagieren.
Die Resonanz der Bevölkerung in den Wochen nach der Grenzöffnung hat deutlich gemacht, dass das viele Menschen in Deutschland genauso gesehen haben. Es wäre doch keine Alternative gewesen, sich wegzuducken, während gestrandete Menschen unterwegs nach nirgendwo durch Europa irren.
epd: Inzwischen ist die Balkanroute dicht und die EU hat mit der Türkei einen Pakt geschlossen, um Flüchtlinge fernzuhalten. Ist die Grenzöffnung von 2015 nur eine kurze Episode, der umgehend die Kehrtwende folgte?
Rekowski: Der politische Umgang mit Flüchtlingen hat sich in der Tat seither vollkommen umgekehrt. Wir sind als Völkergemeinschaft weiter von einem Beitrag zur Lösung des Weltproblems Flucht entfernt als zuvor und die Suche nach Lösungen stagniert in dramatischer Weise. Das kann einen ziemlich ratlos machen.
In großen Teilen der deutschen Gesellschaft und auch in der Kirche ist Skepsis und Zurückhaltung spürbar. Man muss sich vielleicht noch einmal das enorme Engagement vieler Bürger im Herbst vergangenen Jahres vor Augen führen. Damals ist es nicht gelungen, die Flüchtlinge zeitnah zu registrieren, und viele Menschen fragten sich, ob der Staat die Lage noch im Griff hat. Die Menschen wollen sich in ihrem Land sicher fühlen. Die Silvesterübergriffe von Köln haben die Sorge um die eigene Sicherheit noch massiv verstärkt und den Stimmungsumschwung befördert.
epd: Was sollten Deutschland und die Europäer tun?
Rekowski: Ich war immer davon überzeugt, dass Europa eine Völker- und auch eine Wertegemeinschaft ist. Die EU mit ihrer Bevölkerung von 500 Millionen Menschen müsste es doch hinbekommen, einen substanziellen Beitrag zur Lösung des Fluchtproblems zu leisten und nicht nur die Grenzen zu schließen. Eigentlich müssten wir so viel beisteuern, wie wir von unserer wirtschaftlichen Kraft her leisten können. Die bisherige Hilfe der EU-Staaten ist jedoch dürftig im Vergleich mit Ländern wie dem Libanon oder Jordanien.
epd: Kann Deutschland alleine handeln? Kritiker sagen, die Bundesrepublik habe sich mit ihrer Flüchtlingspolitik in Europa isoliert und eine Radikalisierung der Gesellschaft befördert.
Rekowski: Die Priorität muss immer sein, eine gemeinsame Lösung zu erreichen. Wichtig ist dabei eine ausreichende Abstimmung und Kooperation der Partner - ich weiß nicht, ob das vor der Grenzöffnung passiert ist. Aber wenn es keinen Konsens gibt und sich die EU eher als handlungsunfähig erweist, müssen auch verantwortliche Entscheidungen einzelner Staaten möglich sein.
Als Kirchen bringen wir uns ein, indem wir immer wieder die Maßstäbe benennen, an denen sich das Handeln orientieren muss. Die Politik muss dann darum ringen, was möglich und was auch mehrheitsfähig ist - sie muss ja letztlich Akzeptanz in der Bevölkerung finden. Die Geschichte hat übrigens schon oft gezeigt, was mutiges Handeln angesichts großer Herausforderungen bewirken kann. So hat Deutschland nach den Fluchterfahrungen des Zweiten Weltkriegs unter schwierigen ökonomischen Rahmenbedingungen eine Menge hinbekommen.
epd: Es ist schwieriger und gefährlicher geworden, nach Europa zu kommen, dennoch wollen noch immer sehr viele Menschen hier Asyl beantragen. Wie lässt sich das lösen?
Rekowski: Nötig ist ein Bündel von Maßnahmen, in erster Linie natürlich die Bekämpfung der Fluchtursachen in den Herkunftsländern. Wir brauchen einen Maßnahmenkatalog, damit die Menschen in ihrer Heimat wieder eine Perspektive haben.
Die Lage in den Flüchtlingslagern im Nordirak, in der Türkei und in den afrikanischen Staaten muss so verbessert werden, dass die Menschen nicht noch weiter in andere Staaten fliehen müssen. Aber es sterben auch weiter Menschen beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Wenn wir nur ihr Elend beklagen, ohne in irgendeiner Weise einzugreifen, dann ist das zu wenig. Ich habe eine kleine Hoffnungsgeschichte vor Augen: das ökumenische Projekt "Mediterranean Hope", über das ich mich vor einigen Tagen in Italien informiert habe und das von der rheinischen und der westfälischen Kirche unterstützt wird.
Besonders gefährdete syrische Flüchtlinge wie schwangere Frauen und Kinder werden dabei von Libyen aus mit dem Flugzeug nach Italien gebracht, wo sie dann Asyl beantragen können. Sie werden also nicht dem Risiko ausgesetzt, auf der Flucht über das Mittelmeer zu ertrinken.
epd: In Deutschland müssen Hunderttausende Flüchtlinge integriert werden. Um den Satz der Kanzlerin aufzugreifen: Schaffen wir das? Und wenn ja, wie?
Rekowski: Diese Aufgabe ist riesig. Zunächst einmal braucht es ausreichend Finanzmittel, um sie stemmen zu können. Wenn wir die Integration hinbekommen wollen, müssen wir Geld in die Hand nehmen für Wohnungen, Kitas und Schulen, statt über mögliche Steuersenkungen zu schwadronieren.
Eine wichtige Rolle spielt die Industrie, insbesondere das Handwerk, wo wir eine große Bereitschaft erleben, Flüchtlinge zu beschäftigen. In einem Betrieb lernen sie ganz schnell die Spielregeln unserer Gesellschaft. Arbeit vermittelt den Zugezogenen auch ein wichtiges Selbstwertgefühl: Ich kann meinen Beitrag leisten in dieser Gesellschaft.
epd: Wo hakt es noch?
Rekowski: Wir brauchen mehr unbürokratische Lösungen, um Menschen den Einstieg in unsere Gesellschaft zu ermöglichen. Zum Beispiel können junge Flüchtlinge in Nordrhein-Westfalen bisher ihre Schullaufbahn nicht zu Ende bringen, wenn sie aus dem schulpflichtigen Alter heraus sind - diese Hürde sollte beseitigt werden. Mancherorts gibt es Reibungsverluste zwischen Ausländeramt, Bundesagentur für Arbeit und Jobcenter. Gut gelöst ist die Kooperation in Düsseldorf, wo es eine gemeinsame Anlaufstelle gibt.
Kommunen sollten Flüchtlinge nicht gerade dort vermehrt unterbringen, wo bereits viele Familien in prekären Verhältnissen leben - das schürt Konflikte um Kitaplätze und Wohnraum. Auch im Bereich von Diakonie und Sozialarbeit benötigen wir kreative Lösungen. Besonders gut gefällt mir das Wuppertaler Projekt des Sprach- und Integrationsmittlers: Migranten werden dabei Dolmetscher, aber auch Vermittler zwischen den Kulturen - sie helfen in Alltagssituationen, beispielsweise im Krankenhaus.
epd: Für bestimmte Flüchtlingsgruppen ist der Familiennachzug derzeit ausgesetzt - eine sinnvolle Maßnahme?
Rekowski: Das war keine weise Entscheidung. Der Familiennachzug für anerkannte Flüchtlinge ist schon aus humanitären Gründen geboten, er erleichtert aber auch die Integration. Es ist verwunderlich, dass Parteien, die sonst als Hüter der Familie auftreten, geflüchteten Menschen das Zusammenleben mit ihren nächsten Angehörigen versagen wollen.
epd: In den Kirchen haben mit Beginn der starken Flüchtlingszuwanderung viele Menschen die Ärmel hochgekrempelt und angepackt. Wie steht es ein Jahr später um die Hilfsbereitschaft?
Rekowski: Insgesamt ist das ehrenamtliche Engagement in den Kirchen nach wie vor sehr groß und trägt maßgeblich zum Gelingen der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen bei. Natürlich gibt es aber über einen solch langen Zeitraum auch Enttäuschungen und Frustration.
epd: Auch Widerstand gegen die Willkommenskultur?
Rekowski: Die gesellschaftliche Wirklichkeit bildet sich auch in der Kirche ab. Deshalb gibt es auch dort Menschen, die eine Aufnahme von Flüchtlingen ablehnen. Aber sehr viele erleben die Begegnung mit den fremden Menschen, die zu uns kommen, als eine Bereicherung, und bringen sich deshalb hoch motiviert ein. Wir können ein Stück stolz sein auf das, was Kirche in diesem Bereich leistet.
Das Interview führte Ingo Lehnick.