Die Bilder vom Petersplatz zeigten am Donnerstag bei der Totenmesse für den Papst-Emeritus Benedikt XVI. (2005-2013) ein großes Banner mit der Aufschrift "Santo subito!" - heilig sofort.
Auch entsprechende Rufe waren zu hören. Gleich mehrere Kardinäle gingen sogar noch einen gehörigen Schritt weiter: Der Theologe Benedikt XVI./Joseph Ratzinger stehe auf einer Stufe mit den bislang erst 37 sogenannten - heiligen - Kirchenlehrern. Geboten scheint nun vor allem eins: Besonnenheit.
6.650 Heilige und Selige, 7.400 Märtyrer
Die Bilder gleichen sich. Im April 2005 hatten Gläubige erstmals das zum geflügelten Wort gewordene "Santo subito!" akklamiert; damals für den verstorbenen Johannes Paul II./Karol Wojtyla (1978-2005). Der Papst aus dem kommunistischen Polen hatte in dem Wunsch, den Menschen des blutigen 20. Jahrhunderts Vorbilder zu geben, mehr Personen selig- und heiliggesprochen als all seine Vorgänger zusammen. 6.650 Heilige und Selige sowie 7.400 weitere, bei Christenverfolgungen getötete Märtyrer listet das vatikanische Heiligen-Gesamtverzeichnis "Martyrologium Romanum" von 2004 auf.
Aber auch unter Benedikt XVI. und Franziskus taktete die Maschinerie der angelaufenen Prozesse weiter. Auch die Nachfolger Johannes Pauls II. sprachen Hunderte vorbildhafte Katholiken selig oder heilig. Mit einer fatalen Tendenz, wie Kirchenhistoriker längst kritisieren: Nicht nur die Schlagzahl muss Besorgnis erregen. Es sind vor allem die Ausnahmen von einem Verfahren, das der Vatikan einst - genau zum Zweck der Entschleunigung und Objektivierung - entwickelt hat und in diesen Grundzügen seit rund 300 Jahren anwendet.
Johannes Paul II. rückt vom Verfahren ab
In Gang gesetzt hat auch diese Entwicklung: Johannes Paul II. Er rückte für die Ordensgründerin Mutter Teresa von Kalkutta (1910-1997) erstmals von der ausdrücklich vorgeschriebenen Fünf-Jahres-Frist zur Aufnahme des Seligsprechungsverfahrens ab und erlaubte einen Start bereits zwei Jahre nach ihrem Tod.
Der Prozess für ihn selbst begann mit Erlaubnis Benedikts XVI., der die "Santo subito"-Rufe erhörte, sogar noch viel schneller, schon drei Monate nach seinem Tod. Johannes Paul II. wurde 2011 selig- und 2014 heiliggesprochen, noch über zwei Jahre früher als Mutter Teresa, die "acht Jahre Vorsprung" hatte und ja selbst schon auf die Überholspur gesetzt war. Setzt sich die Kaskade nun mit dem Eiligsprecher des Heiligsprechers fort: santo subito - und dann noch rasch Kirchenlehrer obendrauf?
Definition unterliegt festem Verfahren
"Die Kirche denkt in Jahrhunderten", so sagt man, inzwischen eher spöttisch, um die Langsamkeit und Besonnenheit jener Institution zu charakterisieren, die sich auf die Fahne geschrieben hat, (wie der verstorbene Bischof Joseph Ratzinger) "Mitarbeiterin der Wahrheit" zu sein. Doch worin unterscheidet sie sich mit ihrer neuen Neigung zum "subito" von jenen egozentrischen Hypes und hysterischen Superlativen, die die Welt der Sozialen Medien befeuert? Dort bespiegeln sich die Kardashians, Kriegstreiber, Trumps und Ronaldos um die Wette, als die größten, schnellsten, erstmaligen.
Der deutsche Kardinal Müller, früher Leiter der Vatikanbehörde für Glaubensfragen, definiert korrekt, was derzeit Stand der Dinge sein kann: Für ihn persönlich gehöre Benedikt XVI. mit seiner herausragenden Theologie schon jetzt zu den Lehrern der katholischen Kirche. Dies aber für die Gesamtkirche zu definieren, unterliege einem festgelegten Verfahren.
Eiligsprechungen befeuern "unbequeme Debatten"
Zu welch unbequemen Debatten der Trend zu Eiligsprechungen fast zwangsläufig führt, zeigt nicht zuletzt der heilige Johannes Paul II. selbst. War denn seine Rolle im Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Kirche bereits ausreichend untersucht; und seine kirchenrechtliche Förderung der sogenannten Neuen Geistlichen Gemeinschaften, von deren charismatischen Gründerfiguren inzwischen nicht wenige nur wenige Jahre später persönlich in ein eindeutig schlechtes Licht gerückt sind?
Im eigenen Interesse muss die Kirche den Eindruck von Eiligsprechungsmechanismen vermeiden. Die Bilder gleichen sich: Für drei Viertel der Päpste des 20. Jahrhunderts laufen Selig- oder Heiligsprechungsverfahren, oder sie sind schon abgeschlossen. Der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück spricht von einer quasi nach außen schützenden "Selbstsakralisierung" der Kirche, die "in krassem Missverhältnis" zu Krisen und Skandalen der jüngeren Zeit stehe. Und der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf: "Das Papsttum feiert sich selbst", statt "in Sack und Asche zu gehen" - oder es feiert zumindest jeweils bestimmte kirchenpolitische Gesinnungen.
Endgültiges Urteil soll Geschichte liefern
Auch für Benedikt XVI. standen am Donnerstag erste Rufer bereit; und es gäbe ohne Zweifel auch schon welche für den "Armen-Papst" Franziskus "von den Rändern". Wäre es nicht eigentlich ganz im Sinn des traditionsbewussten Groß-Theologen Ratzinger, zurückzukehren zu den hergebrachten Verfahren der Kirche?
Benedikt XVI. ist an diesem Vormittag mit Würde und in allen Ehren bestattet worden. Ein endgültiges Urteil über seine Verdienste kann erst die Geschichte treffen, nicht spontanes Empfinden. Wichtiger als voraufklärerisch anmutendes Nachgeben an Volksseele und Mediengesellschaft scheint dieser Tage, dass die Kirche neue Glaubwürdigkeit erwirbt, um ihr christliches Zeugnis im 21. Jahrhundert zu erneuern. Dabei darf auch heute schon - sozusagen "subito" - kräftig Ratzinger diskutiert und zitiert werden.