DOMRADIO.DE: 40 Jahre nach der Gründung hält der frühere Bundesumweltminister Jürgen Trittin die Grünen sogar für tauglich, künftig das Bundeskanzleramt zu besetzen. Würden Sie auch so weit gehen?
Christa Nickels (Gründungsmitglied der Grünen in NRW und erste grüne Katholikin im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK)): Ja, klar. Wir haben ja in den 40 Jahren völlig neue Polit-Modelle in die Gesellschaft hineingepflanzt: Doppelspitze, Quotierung der Frauen, basisdemokratische Ansätze - selbst die CDU bemüht sich darum. Vor allem haben wir aber unsere Inhalte vermittelt.
Es ist eigentlich toll, dass mittlerweile so viele Leute aufwachen. Wenn man sich sein ganzes Leben lang ökologisch engagiert hat, ist es aber auch ein Stück weit traurig, dass man immer noch so vehement um das kämpfen muss, was wirklich vor den Füßen liegt, auch aufzugreifen und in Politik umzumünzen. Das ist eine absolute Notwendigkeit. Ich bin froh, dass mittlerweile eine Revolte der Jugend in Gang gesetzt wird, die der Politik ordentlich Dampf macht und auf die Grünen setzt.
DOMRADIO.DE: Angetreten sind die Grünen damals als Anti-Parteien-Partei. Aus den Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegungen heraus bildete sich dann die Bundespartei der Grünen. Da wurde viel und laut gestritten. Gemeinsamer Nenner aber war immer der Umweltschutz.
Nickels: Wir hatten vier grüne Gründungs-Gundsätze: ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei. Ich glaube, diese vier Eckpfeiler tragen immer noch. Gerade wenn wir sehen, wie groß die Kriegsgefahr im Nahen Osten ist, und dass große, alte, traditionsreiche Demokratien von führenden Persönlichkeiten geleitet werden, die Völkerrecht und Menschenrechte en passant abservieren, wenn es ihnen passt, wird einem doch schon ein bisschen Angst und Bange. Man sieht, dass diese vier Grundpfeiler insgesamt absolut wichtig sind. Ich bin sehr froh, dass wir das Flaggschiff des Umweltschutzes sind, aber eben auch diese anderen wichtigen politischen Felder beackern und dafür auch Lösungsansätze haben.
DOMRADIO.DE: Das Verhältnis der Grünen zur Kirche war zeitweise ziemlich aufgeladen. Der verstorbene Kölner Kardinal Höffner hat mal gesagt, das Tischtuch zwischen den Grünen und der Kirche sei zerschnitten. Inzwischen hat sich das sehr entspannt. Es gibt viele Überschneidungsebenen. Was meinen Sie, wie hat sich das Verhältnis zwischen Grünen und Kirche bis heute entwickelt?
Nickels: Ich denke, dass die Kirche auch lernen musste, dass man auch in der Kirche den Dialog auf Augenhöhe pflegen muss und dem Salz in der Suppe der eigenen Organisation - den kritischen, engagierten Reformchristen - Sitz und Stimme geben muss. Wenn wir auf die Christen schauen, die damals in den 1970er Jahren für die Würzburger Synode standen, oder auf die 1980er Jahre, als sich weltweit der konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung entwickelte: Das ist ja auch eine lange Tradition von innerkirchlicher Reformbewegung, die immer wieder an den Rand gedrängt wurde - von den leitenden Bischofskonferenzen und von den leitenden Gremien unserer eigenen Kirche.
Ich glaube, unsere Kirche hat auch lernen müssen, dass dieser Reformprozess und Dialog auf Augenhöhe wesensmäßig zum Christentum dazugehört. Das haben die Grünen innerhalb der Politik verkörpert. Auch zu den Gründungspersonen der Grünen gehörten ja viele Christen. Grüne wie Walter Schwenninger oder Gaby Gottwald, die mittlerweile Mitglied der Partei Die Linke ist, haben schon von Anfang an sehr intensiv mit Hilfswerken wie missio, Misereor und Adveniat zusammengearbeitet. Das ist nie öffentlich thematisiert worden, war aber einfach Fakt.
DOMRADIO.DE: Im Jahr 2000 wurden Sie ins Zentralkomitee der deutschen Katholiken berufen. Aber es gibt eben auch noch Streitpunkte. Einzelne Landesverbände wollen zum Beispiel den Religionsunterricht abschaffen und ihn komplett durch Ethik ersetzen. Wie nah sind sich Grüne und Kirche inhaltlich?
Nickels: Ich habe ja, als ich in den Bundestag gekommen bin, sofort in unserer Fraktion beantragt, dass eine kirchenpolitische Sprecherin oder ein kirchenpolitischer Sprecher gewählt wird, mit dem Mandat, zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Fraktion Kontakt aufzunehmen. Das ist bis heute so geblieben. Wir haben in vielen, vielen Feldern gemeinsame Veranstaltungen gemacht, sind gemeinsam unterwegs - wenn es um Eine Welt geht, um Gerechtigkeit, um die Bewahrung der Schöpfung.
Natürlich gibt es immer noch Konfliktfelder, die sich aber interessanterweise oft mit dem überschneiden, was Christen innerhalb ihrer eigenen Kirchen gerne verändern möchten. Ich glaube, dass eine breite Schnittmenge da ist und dass auch die Kirchen lernen mussten, dass gestritten werden muss - dass produktiver Streit und Dialog das Salz in der Suppe der Gesellschaft und auch des Glaubens sind.
Das Interview führte Carsten Döpp.