Sammelband analysiert Religion, Staaten und Ukraine-Krieg

Auch ein Krieg um die Orthodoxie?

Ein Sammelband der Konrad-Adenauer-Stiftung beleuchtet religiöse und propagandistische Aspekte des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Herausgeber Richard Ottinger untersucht dabei Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre.

Autor/in:
Simon Kajan
Die Mariä-Verkündigungs-Kathedrale ist eine der drei orthodoxen Kathedralen im Kreml in Moskau. / © Sailorr (shutterstock)
Die Mariä-Verkündigungs-Kathedrale ist eine der drei orthodoxen Kathedralen im Kreml in Moskau. / © Sailorr ( (Link ist extern)shutterstock )

Es sind die Mythen, die politische Identität stiften. Sie strukturieren die Vergangenheit und legitimieren die Machtgefüge der Gegenwart. Besonders anschaulich wird das im russisch-ukrainischen Konflikt, der mit dem Angriff Russlands im Februar 2022 eskalierte. Auf die besondere Bedeutung von religiösen Fragen weist nun ein Sammelband der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) hin. Richard Ottinger hat als Herausgeber des Bandes "Religiöse Elemente im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine" religionspolitische, seelsorgliche und propagandistische Aspekte der vergangenen zehn Jahre beleuchten lassen.

Zerstörte Kirche in Kiseliwka, Ukraine / © Bernhard Clasen (KNA)

Der Band bietet einen vielfältigen Einblick in die Rolle der Religion auf beiden Seiten. Der Paderborner Ökumeniker Johannes Oeldemann macht den Anfang mit einer Darstellung der komplexen konfessionellen Lage in der Ukraine, die durch mehrere Kirchenspaltungen in den vergangenen Jahrzehnten geprägt ist. Während zunächst "von unten" diverse "Los-von-Moskau"-Abspaltungen vom Moskauer Patriarchat keine große Resonanz gewannen, änderte sich das laut Oeldemann mit den Ambitionen des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko. Dessen Religionspolitischen Ambitionen führten zur Gründung der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) - die das Ökumenische Patriarchat schnell anerkannt hat. Hier zeige sich, dass auch in Kiew wie in Konstantinopel ähnlich wie in Moskau die Vorstellung einer Symphonie von Staat und Kirche wirkmächtig bleibe.

Bereits Oeldemann greift den Begriff der "Russischen Welt" auf, den Andreas Heinemann-Grüder als zivilreligiöse und kirchenpolitische Ideologie des heutigen Russlands vorstellt. Demnach sei diese russische Welt "eine eigenständige Zivilisation, die auf gemeinsamer Herkunft, Religion und historischem Erbe beruhe". Eine besondere Rolle spielen dabei die russischen Bevölkerungsgruppen im Ausland, vor allem in EU-Staaten wie im Baltikum. Neben der kulturellen Rückbindung an Russland gehe es um Einflussnahme, die über diverse Organisationen, aber auch die russisch-orthodoxe Kirche hergestellt werde, die seit 2009 auch organisatorisch mit dem Konzept der "Russischen Welt" verbunden sei.

Heinemann-Grüder sieht die "symbiotische Nähe" zwischen der russischen Regierung und dem Patriarchat in beiderseits praktizierter autokratischer Führung und Loyalitätskultur gegründet. Zudem sei die ROK integraler Teil der hybriden Kriegsführung des Kremls, führt Heinemann-Grüder weiter aus, und fordert entsprechende Maßnahmen zur Eindämmung der Aktivitäten der ROK im Ausland.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine betrifft nicht nur die Ukraine und Russland. Er hat die Weltorthodoxie in eine massive Krise gestürzt. Der Münsteraner Ökumeniker stellt daher die Frage nach einem "geopolitischen Schisma", in dem die Patriarchen von Konstantinopel und Moskau unversöhnliche Gegensätze verkörpern.

Dazwischen gibt es viele Grautöne - in der Bewertung der kirchlichen Lage in der Ukraine - pro OKU oder pro UOK - wie in der Bewertung des Krieges. Trotz allem stünden die meisten Kirchen jedoch in Kommunionsgemeinschaft - erstaunlich für eine Weltorthodoxie, deren letztes Konzil bereits vor dem Krieg de facto als gescheitert gilt.

Der prominentester Autor in dem Buch dürfte der ehemalige Moskauer Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt sein. Er berichtet aus seiner Erfahrung im postsowjetischen Russland, der Renaissance des russischen Judentums - und das von ihm als abruptes Ende wahrgenommenen Endes durch den russischen Angriff auf die Ukraine.

Studierende am Rabbinerseminar / © Markus Nowak (KNA)

Nach Kriegsbeginn floh Goldschmidt aus Russland. Das jüdische Leben beschreibt Goldschmidt auch als Opfer staatlicher Repression. Aber eben auch staatlicher Instrumentalisierung: Letzteres finde seinen Ausdruck in der Förderung des Rabbiners Berel Laz der Chabad-Lubawitsch-Bewegung. Hier werde deutlich: wer das Ohr Putins hat, der werde zum Sprachrohr des Kremls.

Vor allem in westlichen Ländern sorgte es für Aufsehen, dass sich Papst Franziskus nicht eindeutig auf eine Seite - also jener der Ukraine - schlagen wollte. Nicht nur in der Rhetorik sollte die Türe auch für Moskau offenbleiben. KNA-Chefkorrespondent Ludwig Ring-Eifel schildert die römische Warte aus eigener Beobachtung. Die traditionell neutrale Haltung der Päpste in Kriegen sieht er nun verschärft, da sich Russland als "Verteidiger traditioneller Werte" in Szene setze. Leitgedanke des Papstes sei aber die Warnung vor einem "Dritten Weltkrieg in Stücken", an dessen Anfang er den Konflikt um die Ukraine ausmacht. Neben der Aufforderung zur Achtung von Völkerrecht und humanitären Standards, stehe dann die Auslassung der Frage, wer denn der Aggressor sei.

Die Rolle der anderen Konfessionen neben der Orthodoxie nimmt umfangreichen Raum des Sammelbandes ein. Sei es die Rolle der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche, von evangelischen Christen und Freikirche oder der jüdischen Gemeinschaft.

Eine besondere Rolle spielt auf der Seite Russlands jedoch neben der Orthodoxie auch der seit dem 7. Jahrhundert ansässige Islam, der seitens des Staates zu den "traditionellen Religionen" des Riesenreichs gezählt wird. Andreas Jacobs zeigt die besondere Bindung des Islam durch die Islampolitik auf, die vor allem gegen den Islamismus gerichtet ist. Viele Islamisten seien dadurch in das Ausland gegangen und hätten sich dort Gruppierungen wie dem "Islamischen Staat" (IS) angeschlossen. Der Staat habe dagegen versucht, einen "russischen Islam", kompatibel mit der Ideologie von der "Russischen Welt" zu implementieren. Dabei vermenge sich militanter Patriotismus mit islamischer Symbolik und antiwestlicher Rhetorik. Eine Strategie, die bislang bei den meisten Muslimen der Russischen Föderation verfange und sie als Unterstützer für den Kriegskurs gewonnen habe.

Eine besondere Rolle im Krieg spielt auf beiden Seiten die Militärseelsorge. Die Münsteraner Ostkirchenkundlerin Regina Elsner stellt die sehr unterschiedlichen Konzepte auf russischer und ukrainischer Seite dar und untersucht anschaulich ihre Genese.

Während auf ukrainischer Seite seit den 1990er Jahren eine religiöse Pluralität auch institutionell in der Gesellschaft verankert wurde, die im "Allukrainischen Rat der Kirchen und Religionsgemeinschaften" Ausdruck gefunden hat, ging Russland einen anderen Weg.

Dort habe seit der Privilegierung der russisch-orthodoxen Kirche und der repressiven Innenpolitik seit 2011 eine Mystifizierung des Militärischen stattgefunden. Beides zeige sich in Theorie und Praxis der Militärseelsorge. Menschenunwürdige Zustände in der Armee fänden in Russland seitens der Kirche ebenso wenig Beachtung wie die maßlose Gewalt gegen Ukrainer.

Demgegenüber habe sich in der Ukraine spätestens seit der "Orangenen Revolution" ein demokratischer Weg etabliert, der sich in einem Selbstbild der Militärseelsorge "als multi- und interreligiöser Unterstützung der Mitglieder der Streitkräfte in Anerkennung ihrer menschlichen und dienstlichen Herausforderungen und auch als Garant der Einhaltung fundamentaler Menschenrechte" niederschlage.

Den Reigen schließt der Tübinger Moraltheologie Franz-Josef Bormann mit grundsätzlichen Überlegungen zur Friedensethik und der Frage nach dem "gerechten Krieg" ab. Bormann mahnt die christlichen Kirchen, ihre friedensethischen Konzepte auf ihre Aktualität hin zu überprüfen. Doch sollte das trotz aller historischer Weiterentwicklung innerhalb lehrmäßiger Kontinuitätslinien geschehen, die es ungeachtet aller Brüche gebe.

Bormann illustriert das am Beispiel der Lehre vom "jus ad bellum" und" jus in bello". Abschließend stellt er Überlegungen zum Recht der Notwehr und der Nothilfe an. Er mahnt: die Unterlassung der moralischen Verpflichtungen könne fatale Folgen zeitigen - bis dahin "die globale Sicherheitslage insgesamt weiter zu destabilisieren".

Katholische Kirche in Russland

Rund 800.000 Bürger Russlands bekennen sich zur katholischen Kirche. Mit einem Bevölkerungsanteil von etwa 0,6 Prozent ist sie damit eine kleine Diasporakirche. Die Zahl der Katholiken wäre weit größer, hätten nicht viele deutschstämmige Katholiken nach dem Ende der Sowjetunion Russland verlassen.

Russische Gottesdienstbesucherin / © Natasha Gileva (KNA)