Sant'Egidio fordert Ende der Seenot-Tragödien im Mittelmeer

"Unterlassene Hilfeleistung ist sogar strafbar"

Nach einem erneuten schweren Bootsunglück im Mittelmeer werden Dutzende Migranten vermisst. Die christliche Gemeinschaft Sant'Egidio appelliert, endlich Maßnahmen zu ergreifen, um solche Tragödien zu vermeiden.

Migranten auf dem Mittelmeer / © Santi Palacios (dpa)
Migranten auf dem Mittelmeer / © Santi Palacios ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie schreiben in Ihrem Appell: "Wir müssen uns aus der Erstarrung lösen und Ressourcen in die Rettung der gefährdeten Menschen investieren." Wie meinen Sie das? Was muss geschehen, dass solche Unglücke nicht mehr passieren?

Matthias Leineweber / © Anne Ackermann (KNA)
Matthias Leineweber / © Anne Ackermann ( KNA )

Pfarrer Dr. Matthias Leineweber (Zweiter Vorsitzender der christlichen Gemeinschaft Sant'Egidio): Zuerst einmal man muss hinschauen und nicht wegschauen. Wir schauen viel zu oft weg. Wenn man jetzt sieht, dass die vier Geretteten wahrscheinlich noch tagelang auf dem Meer geschwommen sind, bis man sie entdeckt hat, dann sieht man, dass man überhaupt nicht mehr hingucken will, um die Menschen noch zu retten.

Wir müssen wieder mehr bereit sein, den Menschen, die in Not geraten sind, auch zu Hilfe zu kommen. Das ist ein urchristliches Prinzip, jemandem in der Not zu helfen und nicht absichtlich schuldhaft wegzuschauen. Ich glaube, das ist die wichtige Veränderung, die wir vollbringen müssen.

DOMRADIO.DE: Was wäre denn eine konkrete Maßnahme, um wieder auf die Not der Menschen zu schauen?

Leineweber: Man müsste wieder Rettungsmaßnahmen ergreifen und bewusst Menschen, die in Not geraten sind, zur Hilfe kommen und nicht wegschauen. Diese Maßnahmen wurden eingestellt. Dadurch erfahren immer mehr Menschen, die in Not geraten sind, keine Hilfe. Das ist auch ein Prinzip des Seerechts.

Matthias Leineweber

"Es ist ein Grundrecht des Menschen. Wenn ich jemanden am Straßenrand sehe, der in Not ist, dann gehe ich nicht vorbei."

Migranten winken von einem Boot um Hilfe / © Karolina Sobel/Sea Watch/AP (dpa)
Migranten winken von einem Boot um Hilfe / © Karolina Sobel/Sea Watch/AP ( dpa )

DOMRADIO.DE: Die private Seenotrettung wurde teilweise stark kritisiert. Es hieß, dass sie zu "Pull-Faktoren" führe, also dass sich Menschen erst auf die Flucht machen würden, weil sie wissen, dass es die private Seenotrettung gibt. Eine aktuelle Studie widerspricht nun. Sollte man die private Seenotrettung wieder mehr einsetzen?

Leineweber: Auf alle Fälle. Es ist ein Grundrecht des Menschen. Wenn ich jemanden am Straßenrand sehe, der in Not ist, dann gehe ich nicht vorbei. Unterlassene Hilfeleistung ist sogar strafbar. Es ist wichtig, dass wir zu diesem humanitären Prinzip wieder zurückkehren, das einfach nicht umgesetzt wird.

Die "Pull-Faktoren" für die Flüchtlinge sind nicht die Hilfsmaßnahmen, sondern die Kriege, die wir zum Beispiel im Sudan oder jetzt aktuell im Niger haben. Die Menschen können dort einfach nicht mehr leben, machen sich dann auf den Weg und suchen Fluchtwege.

DOMRADIO.DE: Tunesien ist das Land, von dem aus sich viele afrikanische Flüchtlinge aufmachen und versuchen, in die EU zu kommen. Die EU hat nun ein Abkommen mit Tunesien geschlossen, um genau das zu verhindern. Wie stehen Sie als christliche Gemeinschaft zu diesem Abkommen?

Matthias Leineweber

"Ich glaube, das können wir uns als Europäische Union einfach nicht erlauben, wenn wir Humanität überhaupt noch auf unsere Fahnen schreiben wollen."

Leineweber: Das ist eine schwierige Situation, vor allen Dingen wenn man sieht, wie die Menschen in Tunesien untergebracht sind. Tunesien ist allein überfordert, die Flüchtlingsfrage zu bewältigen, weil die Menschen in Tunesien nicht bleiben wollen und weil die Menschen auch in Tunesien nicht genügend Zukunftsperspektiven haben.

Wir haben auch Bilder von Menschen gesehen, die in die Wüste geschickt wurden, wo sie zum Teil verdurstet sind. Das können wir uns als Europäische Union einfach nicht erlauben, wenn wir Humanität überhaupt noch auf unsere Fahnen schreiben wollen.

DOMRADIO.DE: Wir sehen ein Erstarken von Parteien, die sagen: Schluss mit der Migration. Halten Sie die gegenwärtige politische Stimmung überhaupt für geeignet, um über Flucht und Vertreibung und Fluchtursachen zu diskutieren?

Leineweber: Wir haben in der Vergangenheit gerade auch in Deutschland positive Beispiele registriert, wo das Bürgerengagement sehr groß war. Ich erinnere nur an die Ukraine, wo wir innerhalb von einem Jahr über eine Million Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen haben. Das ging unkompliziert, sie brauchten kein Asylverfahren einschlagen. Viele Bürgerinnen und Bürger haben ihren Wohnraum zur Verfügung gestellt und Unterstützung bei bürokratischen Gängen angeboten.

Wenn man eine Zusammenarbeit von bürgerlichem Engagement und institutionellen Maßnahmen aufbaut, dann kann man viel mehr erreichen. Man kann auch vermeiden, dass Menschen, die ewig lange in irgendwelchen Unterkünften warten, unzufrieden sind und Frust entsteht.

Auf der anderen Seite weisen wir in unserer Mitteilung auch darauf hin, dass Europa dringend Arbeitsmigration benötigt. Ich denke, da müsste man zusammen mit der Wirtschaft einen großen Plan entwerfen, um diesen Bedarf zu decken.

Matthias Leineweber

"Die Angst ist sowieso nie ein guter Ratgeber und hilft auch nicht, Lösungen zu finden."

DOMRADIO.DE: Als Christen leben wir aus der Hoffnung. Was macht Ihnen Hoffnung, dass bei diesem Dauerthema Sterben auf dem Mittelmeer doch noch eine humane Lösung gefunden wird?

Leineweber: Ich glaube, dass es schon viele positive Modelle gibt, die eine Hilfe sind. Deswegen hat Sant'Egidio zum Beispiel das Projekt der humanitären Korridore eingerichtet, um zu ermutigen, als "Best-Practice-Modell" Menschen zu begleiten.

Es ist für beide Seiten eine sehr große Bereicherung, nicht nur für die, die aufgenommen werden, sondern auch für die, die Menschen aufgenommen haben. Ich denke zum Beispiel an manche Ortschaften, wo es sehr wenige junge Familien gab, wo dann Familien aufgenommen wurden und das dörfliche oder ländliche Leben wieder aufgeblüht ist.

Das müsste man einfach mehr verbreiten. Dann wäre das eine Ermutigung. Die Angst ist sowieso nie ein guter Ratgeber und hilft auch nicht, Lösungen zu finden.

Das Interview führte Mathias Peter.

Papst trauert nach Bootsunglück mit Migranten im Mittelmeer um Opfer

Nach einem weiteren schweren Bootsunglück von Migranten im Mittelmeer mit Dutzenden Vermissten trauert Papst Franziskus um die Opfer. Das Oberhaupt der katholischen Kirche habe mit Kummer von dem Schiffbruch erfahren, schrieb er am Donnerstag bei Twitter. "Bleiben wir nicht gleichgültig angesichts solcher Tragödien und beten wir für die Opfer und ihre Angehörigen."

Seenotrettung im Mittelmeer / © Pavel D. Vitko (dpa)
Seenotrettung im Mittelmeer / © Pavel D. Vitko ( dpa )
Quelle:
DR