DOMRADIO.DE: Viele Menschen, die diese Route auf sich nehmen wollen, haben keine Chance auf Asyl in Europa. Dann ist es doch gar nicht schlecht, wenn sie von dieser lebensgefährlichen Reise abgehalten werden, oder?
Matthias Leineweber (Geistlicher Begleiter der Gemeinschaft Sant'Egidio): Natürlich ist es wichtig, dass wir versuchen die schrecklichen Reisen und die tragischen Unglücke, in denen sie oft enden, zu verhindern. Aber wir müssen eine gemeinschaftliche Lösung finden. Wir können die illegale Migration nicht einfach verschieben, ohne dass die Grundlagen der Probleme gelöst sind. An die Lösung der Probleme scheint mir hier nicht gedacht zu sein.
DOMRADIO.DE: 900 Millionen Euro soll Tunesien von der EU bekommen. Das ist etwa dreimal so viel wie bisher. Könnte man das Geld nicht einsetzen, um die Flüchtlinge direkt zu unterstützen?
Leineweber: Auf alle Fälle. Tunesien allein kann das Problem mit den Geflüchteten nicht bewältigen. Deswegen müssen wir eine Alternative finden. Das ist eine epochale Herausforderung, genauso wie der Klimawandel. Das geht nur, wie Papst Franziskus schon sehr oft betont hat, indem wir uns gemeinsam auf den Weg machen.
"Fratelli Tutti" ist das Stichwort. Wie können alle Völker als Geschwister überlegen, wie wir den Bedürfnissen der Länder und der Menschen entsprechen können? Tunesien und Europa haben unterschiedliche Bedürfnisse. Aber der Lösungsweg kann nur gemeinsam erfolgen.
DOMRADIO.DE: Die Lage in Tunesien wird immer angespannter. Schon jetzt gibt es gewaltsame, teils tödliche Auseinandersetzungen zwischen Tunesiern und Flüchtlingen. Wie muss man denn an das Thema herangehen?
Leineweber: Man muss die verschiedenen Bedürfnisse der Länder einbeziehen. Da gibt es einmal das Bedürfnis, dass wir ja die Migration brauchen. Das ist eine grundlegende Frage für Europa. Wir brauchen geregelte Einwanderung für unseren Arbeitsmarkt und für die Versorgung unserer Länder.
Die Flüchtenden haben ein Bedürfnis nach Sicherheit. Sie suchen in anderen Ländern Zuflucht, weil sie in ihren Ländern wegen des Klimawandels, wegen Kriegen und Bürgerkriegen und weil das Leben dadurch unmöglich geworden ist, nicht mehr leben können.
Ein kleines Land wie Tunesien ist auch mit diesem Geld hoffnungslos überfordert. Es kann einige Flüchtlinge aufnehmen. Aber die Flüchtlinge möchten ja zum großen Teil nach Europa. Viele haben schon Verwandte und Bekannte hier und könnten in unsere Gesellschaft integriert werden.
Wenn wir dieses Problem jetzt mit Abschottung regeln, dann ist niemandem geholfen, weder den Flüchtlingen, noch uns.
DOMRADIO.DE: Sant'Egidio setzt sich für sichere Flucht-Korridore ein. Aber man kann auch nicht alle Flüchtlinge nach Europa holen.
Leineweber: Natürlich nicht. Beides ist notwendig. Man muss natürlich auch in die Länder und vor allem in den Frieden investieren.
Wenn Sie sich mal die Sahelzone anschauen, den Südsudan, aktuell wieder den Sudan, dann sind die Probleme dort auch Folgen des Ukraine-Konflikts, in dessen Schatten sich weitere Konflikte entfachen werden, was wiederum weitere Migration auslöst. Es muss ein universaler Friedensplan für die Länder entworfen werden.
Dafür brauchen wir viele Energien, auch Geld, nicht nur für die Länder und für Waffen, sondern auch für eine Zukunft des Zusammenlebens. Das scheint mir zu fehlen.
Der Plan ist zu kurzsichtig gedacht. Wir brauchen eine weitere Vision. Die ist in diesem Deal meiner Meinung nach nicht vorhanden.
Das Interview führte Heike Sicconi.