Im Interview spricht er über Kirche und Gemeinschaft in der Isolation.
KNA: Herr Kardinal, wie gehen Sie mit der massiven Einschränkung in der Isolation um?
Kardinal Jean-Claude Hollerich (Erzbischof von Luxemburg und Vorsitzender der EU-Bischofskommission COMECE): Das ist für mich zuerst auch ein Zeichen von Solidarität mit vielen Menschen, die isoliert worden sind. Menschen in Altenheimen, die keinen Besuch empfangen können. Ältere, die allein in ihrer Wohnung sitzen und Angst haben, dass niemand für sie einkauft. Verglichen mit denen geht es mir gut. Ich kann in meinem Haus spazieren, lesen und mich gut beschäftigen. Und ich nehme mir Zeit zu beten für alle, die sich allein fühlen, für die Kranken und für die vielen Ärzte und Pfleger.
KNA: Viele EU-Länder schließen die Grenzen oder haben sie bereits geschlossen. Dabei macht das Virus nicht vor Ländergrenzen halt. Wie bewerten Sie das?
Hollerich: Das gefällt mir nicht, das muss ich ehrlich sagen. Die EU ist in der Krise sehr wenig sichtbar; die Nationalstaaten treten allein auf den Plan. Sicher, der Nationalstaat hat die Pflicht, seine Bürger zu schützen. Aber mehr Koordination, Zusammenhalt und Gemeinschaft wären sehr gut. Ich habe mit Freude wahrgenommen, dass China Schutzkleidung und Schutzmasken nach Italien schickt - und vermisse solche Solidarität auf europäischer Ebene. Das Unglück scheint jeden auf sich selbst zu fokussieren. Man schaut auf das eigene Land und verlernt, mit anderen in der EU zu teilen.
KNA: Im Erzbistum Luxemburg finden vorerst keine öffentlichen Gottesdienste statt.
Hollerich: Die Kirchen bleiben aber geöffnet. Es ist wichtig für die Menschen, dass sie beten können und dass es weiter Orte von Beistand, Trost und Hoffnung gibt. Mich freut es, wenn ich die Glocken der Kathedrale höre. Das ist für mich ein Zeichen von Normalität und Leben. Es zeigt, dass Christus in unserer Mitte ist und wir uns an ihn wenden können.
KNA: Wie können Kirche und Gemeinschaft in Zeiten der Isolation gelebt werden?
Hollerich: Wir haben Gebete ins Internet gestellt, die Einzelne und Familien zu Hause beten können. Außerdem streamen wir jeden Tag Gottesdienste im Internet aus der Kathedrale. Gerade in den Momenten, in denen die Menschen nachdenken, in sich gehen und den Kontakt mit Gott suchen, sollen sie merken, dass es die Solidargemeinschaft Kirche gibt.
KNA: An dem Virus sterben vor allem Alte und Schwache. Erschüttert das Ihren Glauben?
Hollerich: Wie bei jeder Naturkatastrophe ist mein Glaube davon eigentlich nicht betroffen. Ich glaube, dass die Krise eine Chance bietet, mehr Solidarität und Hilfe zu leben. Es ist auch eine Chance, aufmerksam auf die vielen alten Menschen zu werden. Viele von ihnen sitzen allein in Altenheimen - auch ohne Coronavirus.
KNA: Wie kann man sich in der Isolation vor Einsamkeit schützen?
Hollerich: Das Gebet ist wichtig. Ebenso die Familie und die Nachbarschaft. Man kann übers Telefon ja auch gut Kontakt halten. Wir sind als Gesellschaft nun in einem Spagat. Wir müssen alles tun, um Leben zu schützen und gleichzeitig zu verhindern, dass Menschen einsam und isoliert sind.
KNA: Können Sie der Quarantäne auch etwas Positives abgewinnen?
Hollerich: Ich habe Zeit, Musik zu hören und viel zu lesen, Zeit nachzudenken. Sicher nimmt man sich als Bischof jeden Tag Zeit für das Gebet; aber manchmal habe ich den Eindruck, dass das nicht reicht und dass man zu sehr beschäftigt ist, um über fundamentale Fragen des Glaubens und der Gesellschaft nachzudenken. Diese Zeit hat man mir jetzt geschenkt - und das möchte ich auch nutzen.
KNA: In welche Richtung denken Sie?
Hollerich: Ich bin überzeugt, dass Schluss ist mit der Spaßgesellschaft, in der Menschen ihr Glück vorwiegend an Konsum binden. Jetzt merken wir, wie wichtig Beziehungen sind. Die Individualisierung der Gesellschaft macht uns schwächer. Es zeigt auch, dass komplexe Gesellschaften ihre Schwachstellen haben. Man kann erahnen, was passieren könnte, wenn unser System zusammenbrechen würde.
Das Interview führte Anna Fries.