"Guten Abend! Ich wollte Ihnen von meiner Kindheit erzählen. Aber das ist sinnlos, denn als ich elf Jahre alt war, hat ein Priester mein Leben zerstört." Es ist einer der intensivsten Momente des fast viertägigen Krisengipfels im Vatikan, als beim Abendgebet am Freitag eine etwa 50-jährige Frau zu den versammelten 190 Bischöfen, Ordensoberen und dem Papst spricht.
24 Stunden später bitten diese im Bußgottesdienst am späten Samstagnachmittag: "Attende, Domine, et miserere, quia peccavimus tibi - Wende dich uns zu, o Herr, und erbarme dich, denn wir haben gegen dich gesündigt!" Wie eine dieser Sünden aussah, hatte die Frau beschrieben. "Ich hielt den Atem an, ich verließ meinen Körper, suchte verzweifelt nach einem Fenster, aus dem ich schauen konnte, und wartete darauf, dass es vorbeiging. Ich dachte: 'Wenn ich mich nicht bewege, spüre ich vielleicht nichts; wenn ich nicht atme, sterbe ich vielleicht." Der Missbrauch dauerte fünf Jahre. Keiner merkte etwas.
Sie nennen sich "Überlebende"
Von ähnlichen Erfahrungen berichten auch jene, die am Samstag von der römischen Altstadt in Richtung Vatikan ziehen. Manche von ihnen nennen sich "Überlebende" - und zeigen Fotos von Menschen, die der Missbrauch in den Suizid trieb. Begleitet werden sie von vielen Journalisten. "Das ist gut so", sagt ein Bischof. Denn, da ist er sicher, das weltweite Bischofstreffen gibt es nur wegen des Mutes der Opfer, ihre Geschichten zu erzählen, und wegen der Hartnäckigkeit der Medien.
Weil sich das Problem nicht allein mit Betroffenheit lösen lässt, werden beim Krisengipfel im Vatikan konkrete Vorschläge genannt. Die nigerianische Ordensobere Veronika Openibo verlangt, die Ausbildung von Priestern grundlegend zu überdenken. "Es bereitet mir Sorge, wenn ich sehe, wie hier in Rom und anderswo die jüngsten Seminaristen behandelt werden, als wären sie etwas Besonderes", sagt sie.
Angesichts des Missbrauchs müssten kirchliche Ausbildungshäuser, die bei künftigen Geistlichen ein falsches Überlegenheitsgefühl fördern, in Frage gestellt werden, erklärt Openibo. Einem kritisch nachfragenden Bischof gibt sie höflich aber bestimmt zu verstehen, dass da in der Tat einiges im Argen liege. Mit einer aufmunternden Geste bestätigt sie der Papst.
Es geht um Transparenz
Am dritten Konferenztag geht es vor allem um Transparenz. Nicht um das Hinausblasen jeglicher Informationen, sondern um nachvollziehbare Transparenz, wie Kardinal Marx betont. Und deswegen wirbt der Deutsche für eine gute Verwaltung. Richtig angewendet schütze die vor Willkür der Oberen, sie erleichtere Aufklärung, Urteilsfindung und Prävention. Und dann macht sich Marx auch die Forderung nach Einführung von kirchlichen Verwaltungsgerichten zu eigen.
Zu Transparenz gehört auch der Umgang mit Medien. Deswegen haben die Organisatoren des Anti-Missbrauchsgipfels die langgediente mexikanische Vatikan-Journalistin Valentina Alazraki eingeladen. Sie erklärt den Kirchenoberen: "Wenn Sie gegen Missbrauch und Vertuschung sind, können wir Verbündete sein." Sollten die Bischöfe und Oberen aber "nicht radikal auf der Seite der Kinder, Mütter, Familien und Zivilgesellschaft sein, dann haben Sie mit Recht Grund zur Sorge", dann würden Journalisten zu ihren "schlimmsten Feinden".
Beim Blick zurück in die verlorene Kindheit erinnerte sich das Opfer am Freitagabend an seine Gedanken von damals: "Es musste meine Schuld gewesen sein, dass ich dies verdient habe." Das seien die schlimmsten Wunden, die Missbrauch und Täter schlagen, sagt die Frau. Daher verdrängte sie damals alles, vergrub es tief in ihrer Seele. Bis zu dem Tag, an dem sie selbst Mutter wurde.
"Wir bitten um Gnade"
Da kam alles wieder hoch. Ihr Kind zu stillen, war ihr nicht möglich. Als sie später ihrem Mann sagte, was damals geschehen war, wurde dies im Scheidungsprozess beim Streit um das Sorgerecht gegen sie verwendet. "Du musst damit leben - immer", sagt sie. "Alles, was du tun kannst - falls du kannst -, ist zu lernen, dass es weniger weh tut."
Die Bußliturgie am Samstagabend feierten der Papst und die rund 190 Vorsitzenden der weltweiten Bischofskonferenzen sowie Ordensoberen in aller Stille, in der Tiefe des vatikanischen Palastes, in einem Saal, der sonst nur bei großen diplomatischen Anlässen zum Einsatz kommt: In der Sala Regia, die den Durchgang zur Sixtinischen Kapelle und der Cappella Paolina, weiter dann zur Benediktionsloggia darstellt. Der Papst predigte nicht selbst, er überließ es Philip Naameh, dem Präsidenten der Bischofskonferenz Ghanas, Worte für das Versagen der Weltkirche und den dringenden Wunsch nach Umkehr und Wiedergutmachung zu finden.
Der Erzbischof ging in seinen Überlegungen vom Gleichnis des verlorenen Sohnes aus, die Passage aus dem Evangelium nach Lukas wurde von einer Frau verlesen. Er selbst und seine Brüder im Amt nutzten dieses Gleichnis vielleicht schon allzu "routiniert", wenn es darum gehe, Sünder zur Umkehr aufzufordern, so der Präsident der ghanaischen Bischofskonferenz. Doch dabei könne ein wichtiger Aspekt in Vergessenheit geraten: "Wir vergessen, dieses Gleichnis auf uns selbst anzuwenden; uns als das zu sehen, was wir sind: verlorene Söhne", betonte Nahmeeh. Und dies war der Grundton der Liturgie, Selbstkritik und Gewissenserforschung der Hirten, die für die katholischen Gläubigen auf dem Erdball verantwortlich sind.
Die schlimmste Demütigung
Eine Verantwortung, die in vielen Fällen schändlich vernachlässigt wurde. Dies wurde auch deutlich in dem Zeugnis, das ein junger Mann stellvertretend für die zahllosen bekannten, aber auch unbekannten Missbrauchsopfer von Klerikern vortrug:
"Missbrauch jeder Art ist die schlimmste Demütigung, die man einem Menschen zufügen kann. Es bedeutet, erkennen zu müssen, dass man sich gegen die Übermacht des Täters nicht zur Wehr setzen kann, ihm ausgeliefert ist. Du kannst dem, was da passiert, nicht entkommen, du musst es über dich ergehen lassen: egal, was oder wie schlimm es ist. Wer Missbrauch erlebt, der will all dem einfach nur ein Ende machen. Aber das geht nicht," so die eindrücklichen Worte des Mannes.
Man wolle fliehen, und somit passiere es, dass man nicht mehr "man selbst" sei, sogar vor sich selbst fliehe, und damit am Ende völlig allein dastehe, gab der Missbrauchsüberlebende einen Einblick in die Zerrissenheit, mit der die Opfer oft ihr Leben lang konfrontiert sind. Doch niemand könne diese Zerrissenheit sehen: "Was am meisten wehtut, ist die Gewissheit, dass dich niemand verstehen wird. Und dieses Gefühl wird dich ein Leben lang begleiten."
Der mühsame Versuch, die Welt von "vorher" wieder für sich zu gewinnen, sei "genauso schmerzlich wie der Missbrauch selbst," fuhr der Mann in seinem erschütternden Zeugnis fort. Und dennoch: "Je größer dein Wunsch ist, diese beiden Welten miteinander zu versöhnen, je mehr du dich darum bemühst, umso schmerzlicher ist die Gewissheit, dass es nicht möglich ist. Es gibt keinen Traum ohne Erinnerung an das, was geschehen ist; keinen Tag, an dem man es nicht im Geiste noch einmal durchlebt."
Er selbst könne inzwischen besser damit umgehen, versuche sich auf das "von Gott gegebene Recht" auf Leben zu konzentrieren. "Ich kann, ich sollte hier sein. Das gibt mir Mut," betonte der Missbrauchsüberlebende, der, so wie zahlreiche der Teilnehmer an der Liturgie, sichtlich mit den Tränen rang. „Es ist jetzt vorbei. Ich kann nach vorne schauen. Ich muss nach vorne schauen. Wenn ich jetzt aufgebe, stehen bleibe, dann lasse ich zu, dass diese Ungerechtigkeit mein Leben beeinflusst. Und das kann ich verhindern, indem ich lerne, es zu kontrollieren, indem ich lerne, darüber zu sprechen."
Im Anschluss an seine bedrückenden und mutigen Worte trug der junge Mann auf der Geige ein Stück von Johann Sebastian Bach vor, bevor nach einer kurzen Stille der Papst das Wort ergriff.
Klare Worte von Franziskus
"Seit drei Tagen sprechen wir miteinander, hören die Zeugnisse von Missbrauchsüberlebenden. Zeugnisse über die Verbrechen, deren Opfer Kinder und Jugendliche in unserer Kirche geworden sind. Wir haben uns gefragt: Wie können wir verantwortungsbewusst handeln, was müssen wir jetzt tun? Damit wir aber wirklich mit neuem Mut in die Zukunft blicken können, müssen wir wie der verlorene Sohn sagen: ,Vater, ich habe gesündigt’. Wir müssen prüfen, wo konkreter Handlungsbedarf besteht: für die Ortskirchen, für die Mitglieder unserer Bischofskonferenzen, für uns selber. Und damit das geschehen kann, müssen wir die Situation in unseren Ländern, unser eigenes Handeln, ehrlich in den Blick nehmen," nannte Papst Franziskus noch einmal die Rahmenbedingungen für ein Gelingen des beispiellosen Treffens im Vatikan.
Anschließend eine Reihe von bohrenden Fragen, vorgebracht vom Vorsitzenden der Spanischen Bischofskonferenz, Ricardo Blázquez Pérez. "Welche Missbräuche an Kindern und Jugendlichen wurden von Geistlichen und anderen in der Kirche meines Landes begangen? Was weiß ich über die Menschen in meiner Diözese, die von Priestern, Diakonen und Ordensleuten missbraucht und verletzt worden sind? Habe man den Opfern geholfen, ihnen zugehört? Welche Maßnahmen seien ergriffen worden?," waren nur einige der Fragen, auf die jeder einzelne Bischof und Ordensobere seine eigene Antwort finden sollte.
Direkt danach neigte sich die Liturgie mit den Schuldbekenntnissen dem Ende zu, die von John Dew, dem Vorsitzenden der neuseeländischen Bischofskonferenz vorgetragen wurde: es war eine lange Liste von Verfehlungen, die sich konkret auf Versäumnisse im Umgang mit der Plage des sexuellen Missbrauchs bezogen: "Wir bekennen, dass wir Bischöfe unserer Verantwortung oft nicht gerecht geworden sind," so eines der drängenden Eingeständnisse, denen sich die Kirchenvertreter zu stellen hatten.
Eine eindrückliche Bußfeier, die kurz darauf mit dem Schlusssegen endete – und nach dem Willen des Papstes noch lange in den Herzen der Teilnehmer nachwirken soll.