Schulleiter fordern mehr Unterstützung für Brennpunktschulen

"Auch unsere Kinder sind stark und intelligent"

An Brennpunktschulen in Deutschland fehlt es an Lehrern, Sprachförderung und Unterstützung von der Politik. Thorsten Seiß, Schulleiter in Gelsenkirchen, erzählt, warum er nicht an einer anderen Schule unterrichten möchte.

Ein Kind sitzt alleine an einem Tisch in einem Klassenzimmer und macht Schulaufgaben / © Harald Oppitz (KNA)
Ein Kind sitzt alleine an einem Tisch in einem Klassenzimmer und macht Schulaufgaben / © Harald Oppitz ( KNA )

KNA: Sie und die anderen Schulleiter sagen, dass bei der Einschulung Kinder in der Regel bei 0 anfangen, die Kinder an Brennpunktschulen aber häufig bei -5. Was bedeutet das?

Thorsten Seiß, Schulleiter der Grundschule GGS Kurt-Schumacher-Straße / © Thorsten Seiß (KNA)
Thorsten Seiß, Schulleiter der Grundschule GGS Kurt-Schumacher-Straße / © Thorsten Seiß ( KNA )

Thorsten Seiß (Schulleiter der Gemeinschaftsgrundschule Kurt-Schumacher-Straße in Gelsenkirchen): Wenn Kinder in die erste Klasse kommen, starten sie hinsichtlich ihres Bildungsstands bildlich gesprochen in der Regel bei "null" oder ein wenig darüber, viele können bereits ihren Namen schreiben, kennen die Zahlen. Wir starten mit unseren Kindern oft jedoch bei "minus fünf": Sprache und Sozialverhalten sind ungeübt, der Wortschatz unzureichend. Viele Kinder wissen nicht, dass man sich die Zähne putzt oder wie eine Ampel funktioniert. Oder was ein Kreis ist. Also grundlegende Dinge, die zur Schulreife gehören. Unsere Kinder sind eigentlich eher auf dem Stand eines zwei- bis dreijährigen Kindes, nicht auf dem Stand eines sechsjährigen.

KNA: Was sind das für Kinder?

Seiß: An unserer Schule etwa sind es vermehrt Kinder aus dem Südosten Europas, oft aus Roma-Familien. Sie haben oft auch in ihrer eigenen Sprache wenig Kenntnisse, kennen weder Buchstaben noch Zahlen. Auch sind sie anders sozialisiert, können mit unserem bürokratischen Alltag oft nichts anfangen.

Aber wir haben ebenso Kinder mit deutschem Hintergrund, die sehr wenig Bildung mitbringen, die sehr früh auf sich allein gestellt und hauptsächlich durch Medienkonsum beeinflusst sind. Ihnen wird nicht vorgelesen, sie bekommen wenig Input. Viele der Kinder haben sonderpädagogischen Förderbedarf.

KNA: Wie ist die Situation bei diesen Kindern zu Hause?

Thorsten Seiß

"Das heißt für diese Kinder, dass sie keine Privatsphäre haben und es für sie schwer ist, sich individuell zu entwickeln."

Seiß: Sie leben oft auf engstem Wohnraum zusammen, das erleben wir bei Hausbesuchen. Manchmal teilen sich fünf bis acht Kinder ein Zimmer. Das heißt für diese Kinder, dass sie keine Privatsphäre haben und es für sie schwer ist, sich individuell zu entwickeln. Diesen Kindern versuchen wir in der Schule etwas durch die Klassengemeinschaft zu geben, dass wir sie wahrnehmen als Individuum – ohne dass zum Beispiel der große Bruder etwas wegnimmt. Wir versuchen ihnen zu signalisieren: Du darfst hier so sein, wie du bist. Von den Eltern erfahren sie wenig bis keine Unterstützung.

KNA: Was muss sich ändern?

Seiß: Wir müssten die Kinder möglichst viel und möglichst lange in der Schule haben, um Defizite ausgleichen zu können. Wir brauchen für sie Ganztagsplätze – aber zum Beispiel an unserer Schule gibt es nicht genügend, und sie sind zudem kostenpflichtig. Das schreckt ab. Kinder müssten zudem so früh wie möglich gefördert werden. Eine obligatorische Vorschule könnte helfen.

Außerdem müssten Schulen im Brennpunkt ein gutes, kostenfreies Frühstück und ein warmes Mittagessen für alle Schülerinnen und Schüler bieten. Mit knurrendem Magen kann man nicht lernen. Und natürlich brauchen wir viel mehr Sozialarbeiter an den Schulen.

KNA: An Brennpunktschulen gibt es viele Quereinsteiger ins Lehramt. Müssten nicht gerade an ihren Schulen besonders qualifizierte Lehrer sein, damit diese Kinder die bestmögliche Unterstützung bekommen?

Thorsten Seiß

"Zur Zeit läuft die Ausbildung – staatlich gesteuert – am System vorbei."

Seiß: Das stimmt. Das größte Problem ist aber erst einmal, dass es zu wenig Lehrer gibt. Das liegt zum Beispiel am Numerus Clausus, der für unseren Studiengang bei 1,0 liegt. Ein gutes Abitur macht aber nicht unbedingt einen guten Lehrer aus. Wir brauchen mehr Menschen in diesen Studiengängen. Zur Zeit läuft die Ausbildung – staatlich gesteuert – am System vorbei.

KNA: In dem Statement der Schulleiter an Brennpunktschulen wird auch deutlich, dass die meisten von ihrer Tätigkeit sehr überzeugt sind und trotz der Probleme nie an einer anderen Schule unterrichten wollen. Warum?

Seiß: Weil wir die Arbeit hier sehr gerne tun. Es ist eine Tätigkeit, die Sinn ergibt und etwas in der Gesellschaft bewegt. Es gibt viele Vorurteile – manche denken vielleicht, dass sie hier schnell ein Messer im Rücken haben. Aber an unseren Schulen sind ganz normale Kinder mit ganz normalen Bedürfnissen und Befindlichkeiten. Man baut eine Beziehung zu ihnen auf, wie in anderen Schulen auch.

KNA: Sind Kinder an Brennpunktschulen vielleicht dankbarer als Kinder an anderen Schulen? Wissen sie mehr zu schätzen, dass man sich um sie kümmert?

Seiß: Absolut. Sie kommen gerne zu uns und nehmen auch wahr, was wir leisten. Wenn sie häufig nicht zum Unterricht kommen, ist das nicht ihre Schuld – sie werden mitunter nicht geweckt, weil in der Familie keiner eine Arbeit hat und alle weiterschlafen können.

Thorsten Seiß

"Wenn wir als Schule versagen, kippt die Gesellschaft auf Dauer."

KNA: Sie schreiben in ihrem Papier: "Auch unsere Kinder sind starke und intelligente Kinder"...

Seiß: Ja, die Potenziale sind komplett vorhanden. Aber die entsprechende Förderung fehlt eben. Es ist traurig, dass die Gesellschaft das nicht wahrnimmt. Unsere Bedingungen an den Schulen werden immer schlechter. Wir müssen versuchen, diese Kinder zu integrieren, aber zaubern können wir nicht. Wenn wir als Schule versagen, kippt die Gesellschaft auf Dauer. Die Spaltung zwischen den Schichten wird immer größer werden.

Das Interview führte Nina Schmedding  

Daten zur Umfrage an bundesweiten Brennpunktschulen

Die Wübben Stiftung Bildung hat eine Umfrage unter Schulleitern an so genannten Brennpunktschulen gemacht – in Berlin, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Berücksichtigt wurden rund 150 Schulen, in denen entweder mindestens 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine andere Herkunftssprache als Deutsch haben oder mindestens 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen aus Familien kommen, die Leistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch erhalten (etwa Arbeitslosengeld).

Jacken und Taschen hängen in einem Schulflur  / © Julia Steinbrecht (KNA)
Jacken und Taschen hängen in einem Schulflur / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
KNA