KNA: Spätestens sechs Monate nach Ankunft in Deutschland gilt für junge Geflüchtete aus der Ukraine die Schulpflicht. Anfang August waren das hierzulande rund 150.000 Heranwachsende. Sind Lehrkräfte und Schulen überhaupt auf ihre Beschulung vorbereitet?
Matthias Wocken (Schulleiter der Thomas-Morus-Schule (TMS) in Osnabrück): Wie zu allen Zeiten großer Fluchtbewegungen haben die Schulen nicht wirklich eine Chance, sich personell oder konzeptionell ausgewogen auf Geflüchtete einzustellen. Es gilt immer, spontan und der Lage angemessen die eigenen Ressourcen einzusetzen - auch nach sechs Monaten.
Als Stiftungsschule haben wir das Glück, einen bedarfsgerecht agierenden Schulträger zu haben, der uns ermöglicht, Personal - zwei ukrainische Lehrerinnen - zu akquirieren und selbstständig agieren zu dürfen. Wenn wir Ideen entwickeln, wie wir Unterricht in Deutsch als Zweitsprache - DAZ - gut umgesetzt bekommen, dann handeln wir mit Rückendeckung.
KNA: Der Deutsche Lehrerverband hat im Juni ein Langfristkonzept, massive finanzielle Unterstützung und zusätzliches Lehrpersonal gefordert. Teilen Sie diese Einschätzung?
Wocken: Bei der Anzahl der ukrainischen geflüchteten Kinder in ganz Deutschland kann die Anzahl der vorhandenen Schulplätze nicht ausreichen. Das gilt nicht nur hinsichtlich der betreuenden Teams, das gilt vor allen Dingen räumlich. Wenn dann tatsächlich ein Schulplatz vorhanden ist, gilt es, die Mittel vor Ort gut auszuschöpfen. Multiprofessionelle Teams mit Sozialpädagogen und Übersetzern, wie sie der Deutsche Lehrerverband fordert, sind ein Luxus, über den nicht alle Schulen verfügen. Vor allem kleinere Schulen bekommen diesen Bedarf nicht zugesprochen.
Als kirchliche Schule sind wir auch an dieser Stelle den staatlichen Einrichtungen oft deutlich voraus. Die Willkommenskultur liegt erstens in der DNA des kirchlichen Schulsystems, und ich persönlich erachte sie an der Stelle als verpflichtend. Zweitens sind wir mit einem Team aufgestellt, das sowohl im Bereich sozialpädagogisch-beratender Seite als auch aufseiten der enorm wachen Gremienarbeit durch Schüler*innen- und Elternräte top und enorm hilfsbereit beziehungsweise lösungsorientiert ist.
KNA: Welche Rolle spielen die Mitschüler?
Wocken: Allen Beteiligten geht es ums Ermöglichen. Für dieses Ziel nimmt die Schulgemeinschaft auch ein Zusammenrücken - im wahrsten Wortsinn - gerne in Kauf. Das Übersetzen leisten bei uns übrigens
Schüler- und Schülerinnenpaten, die Gott sei Dank in ausreichender Zahl vorhanden sind. Für diese Paten ist ihre Aufgabe Ehre und Lebensgewinn. Sie wachsen an der Stelle nicht selten über sich hinaus.
Für wichtig halten wir, dass jeder Heranwachsende eine Regelklasse unabhängig seiner "Willkommensgruppe" beziehungsweise seiner DAZ-Gruppe hat. Nur so kann eine zeitnahe Integration in eine Klassengemeinschaft gelingen.
KNA: Ist die Situation angesichts der Corona-Pandemie und Lerndefiziten nicht ohnehin angespannt? Wie damit umgehen, wenn nun noch Schüler mit geringen Deutschkenntnissen und möglichen Traumata hinzukommen?
Wocken: Wichtig ist, dass wir die ukrainischen Schülerinnen und Schüler davon überzeugen, dass die deutsche Sprache der Schlüssel zum gelingenden Leben ist, wenn sie mit ihren Familien in Deutschland bleiben. Das heißt, genau hier investieren wir alle Kraft, die wir neben dem "Alltagsgeschäft" aufbringen können.
Die Lerndefizite nach Corona betreffen alle Schülerinnen und Schüler. Somit bewegt sich die gesamte Schulgemeinschaft in einem vermeintlichen Gleichklang, der auf das Erlebte und damit womöglich nicht oder anders Gelernte Rücksicht nimmt. Weniger Klagen hilft an der Stelle sicherlich auch.
KNA: Was ist nötig, damit Schulen von Improvisation und freiwilligem Engagement zu einem umfassenden und verlässlichen Konzept und langfristiger Integration ukrainischer Schüler finden?
Wocken: Das deutsche Schulsystem ist reformüberreif! Es geht hier nicht nur um ein Konzept zum Reagieren auf spontane Geschehnisse. Es geht hier um das Wahrnehmen der veränderten Gesellschaft. Schule hinkt dem Realleben um Jahrzehnte hinterher. Wenn wir nicht endlich flächendeckend konzeptionell in das wahre Leben unserer Kinder und Jugendlichen "einsteigen", wird das System weiter kollabieren. Jede Schule versucht, "vor Ort" Lösungen zu finden.
Ich verneige mich vor unseren Lehrerinnen und Lehrern, die immer noch bereit und in der Lage sind, ihre Schützlinge auf Priorität 1 zu setzen. Wir müssen jedoch dringend von "klein" und "vor Ort" in Richtung "groß" und "flächendeckend" umschalten. Ansonsten werden die aktuellen Generationen von Lernenden nicht in der Lage sein, die sehr präsenten Sorgen der Welt zu lösen.
Das Interview führte Angelika Prauß.