DOMRADIO.DE: Zwei Jahre sind jetzt seit der verheerenden Flut vergangen. Viele verloren in Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz ihr Haus, insgesamt sind mehr als 180 Menschen gestorben. Wie präsent ist denn diese Katastrophe heute noch bei Ihnen im Ahrtal? Gibt es schon so was wie Alltag?
Pfarrer Jörg Meyrer (Pfarrei Bad Neuenahr-Ahrweiler): Ja, es gibt so was wie Alltag, den muss es geben, sonst kann man ja nicht leben. Man kann nicht ständig nur mit Unvorhergesehenem oder mit Nicht-Alltäglichem leben.
Aber die Flut ist auch noch immer jeden Tag präsent. Das kommt ja schon dadurch, dass wir ganz, ganz viele Provisorien noch haben. Wenn ich über eine Brücke fahre, fahre ich immer über ein Provisorium, unsere Kindergärten und Schulen sind noch in Provisorien untergebracht. Die Straßen sind noch in einem Zustand, dass sie noch immer an die Flut erinnern und das gilt auch für ganz viele Häuser.
DOMRADIO.DE: Und wie erleben Sie das als Seelsorger im Alltag; wird noch viel darüber gesprochen oder ist eher die Stimmung bei den Menschen nach dem Motto: Wir schauen nach vorne!
Meyrer: Also es ist beides da. Es gibt ganz viele, die sagen, wir haben es jetzt gepackt und es ist jetzt mal gut. Vor allem junge Familien habe ich ganz konkret in Erinnerung, etwa Tauf-Gespräche, in denen sie gesagt haben, wir haben ein Kind und wir sind eine Familie und wir gehen nach vorne.
Aber es gibt eigentlich auch kein Gespräch, wo die Flut kein Thema ist, also wo man nicht darüber spricht, wie man das jetzt geschafft hat oder wo man jetzt steht oder was einen immer noch sehr betrübt und bedrängt und das Leben auch schwer macht. Die Flut ist immer da und die Folgen der Flut sind noch längst nicht bewältigt.
DOMRADIO.DE: Und es war wirklich unfassbar, was damals passiert ist, wenn man sich heute die Bilder anschaut. Wie haben Sie dann damals als Seelsorger diese dramatischen Tage erlebt?
Meyrer: Als ungeheuer dicht und wir wurden in eine immer neue Dramatik hineinversetzt. Die Geschichten, die wir von den Leuten gehört haben, die ich gehört habe, waren immer neu, immer dramatisch. Und unsere eigenen Erlebnisse natürlich auch.
Wenn ich das aufrufe und mich daran erinnere, wenn Sie mich jetzt danach fragen, sind die Bilder von damals sehr präsent, etwa von der Begleitung der Menschen, die jemanden verloren haben, von immer neuen Trümmern, vor denen wir gestanden haben, von den Umarmungen mit den Menschen, die am Arbeiten waren, das Kennenlernen von neuen Menschen. Das ist alles sehr präsent. Und das hat sich auch tief in unsere Seelen eingegraben, das wird uns immer begleiten, das wird nicht mehr weggehen.
DOMRADIO.DE: Würden Sie denn auch sagen, dass die Menschen in der Region enger zusammengerückt sind, oder war das ein Erlebnis, bei dem die Menschen erst einmal geschaut haben, wie sie selber zurechtkommen?
Meyrer: Das ist eine gute Frage! In der ersten Zeit nach der Flut war es auf jeden Fall so, dass wir ganz, ganz eng zusammengerückt sind. Es gab ja dieses Wort von der "Solidahrität", wo man das Wort mit a - h - r geschrieben hat. Das war ja sprichwörtlich für das, wie es im Ahrtal war. Alles, was man hatte, wurde geteilt.
Das ist natürlich ein Stück weit zurückgetreten und da ist Normalität auch wieder eingekehrt. Jeder guckt auch ein Stück mehr auf sich selber und ist doch noch mal ein Stück mehr auf sich selber bedacht.
Und der Neid, wenn der Nachbar ein bisschen weiter ist als ich und wenn der es schon geschafft hat, weil er bessere Versicherungskonditionen hat oder die besseren Drähte zu Handwerkern, dann ist das schon auch auch noch mal schwieriger geworden. Auch das gehört zu den vielen Dingen, die hier zu bewältigen sind, also die unterschiedlichen Geschwindigkeiten im Aufbau, das was bei einem selber vielleicht nicht klappt und bei anderen schon funktioniertt. Das macht das Leben auch schwer.
DOMRADIO.DE: Viele Menschen sind damals gestorben, neben den immensen Schäden, über die wir ja schon gesprochen haben. Dieses Leid ist durchaus auch für einen gläubigen Menschen eine große Herausforderung ist. Jetzt sind zwei Jahre vergangen. Wie geht es Ihnen damit? Können Sie als gläubiger Mensch dieses Leid irgendwie akzeptieren? Hat es irgendeinen Sinn für Sie?
Meyrer: In der akuten Situation, glaube ich, hat Leid nie Sinn. Also nie Sinn in dem Verständnis, dass kann ich jetzt verstehen. So hat Leid keinen Sinn. Es kann mich aber je nach Situation in etwas Größeres hinein stellen, in dem ich den Weg gehe, der damit zu tun hat. Und das tun viele. In diesem Verständnis gibt es, glaube ich, auch positive Effekte durch das, was wir erlebt haben, wie zum Beispiel das Erinnern können an die Solidarität, an die Gemeinschaft, an das Erleben, dass man zusammensteht und dass einem das das Leben leichter macht.
Und das Erinnern daran, dass wir Großes mit viel Mühe beim Aufräumen und Wiederaufbau geschafft haben. Das sind Dinge, die was mit Sinn zu tun haben. Auch, dass man es wieder schöner hinbekommt und wieder besser hinbekommt, als es vorher war. Auch das hat natürlich was von Sinn. Aber das Durchstehen durch Leid ist immer unendlich schwer. Und da darf man den Leuten nie sagen: Na ja, komm, es wird schon für was gut sein. Das hat was von Hohn.
DOMRADIO.DE: Es wird immer noch über die Verantwortung der Politik diskutiert, man hätte früher warnen können und ähnliches. Mit Ihrem Blick als Seelsorger. Was brauchen denn die Menschen jetzt zwei Jahre nach der Flut am dringendsten? Bringen solche Diskussionen noch etwas oder ist es gerade wichtig, dass auch bei der Frage der Verantwortung nicht einfach so nachgelassen wird?
Meyrer: Ich glaube, dass es einen Teil der Menschen gibt, die die Frage nach der Verantwortung wirklich brauchen, auch wenn sie wahrscheinlich nie geklärt werden wird. In so einer Katastrophe ist niemand direkt verantwortlich. Aber dass darüber noch mal gesprochen wird, wie man damit umgegangen ist oder was man hätte besser machen können, ist natürlich auch für die Zukunft ein wichtiger Punkt, damit wir daraus lernen.
Was die Menschen brauchen, ist weiterhin Zuversicht, immer wieder den Blick nach vorne: Wir schaffen das schon und du schaffst das auch! Die Zusage muss persönlich gelingen und auf den einzelnen Menschen hin.
Die Menschen brauchen die Gewissheit, dass es nach vorne geht. Aber für viele geht es beim Wiederaufbau eben nicht oder noch nicht nach vorne, weil Anträge noch zu schwierig, weil die Bürokratie zu kompliziert ist. Da braucht es immer weiter die Zusage. Darum bemüht sich die Politik.
Und wir hoffen, dass wir die Kraft haben, weiterhin die Jahre durchzustehen, die noch vor uns liegen.
Das Interview führte Mathias Peter.