Selenskyj war in der Nacht zum Sonntag in Berlin eingetroffen. Er traf zunächst mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zusammen, dann empfing ihn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit militärischen Ehren im Kanzleramt.
Am Samstag war Selenskyj nach Rom gereist, wo er mit Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella und Regierungschefin Giorgia Meloni zusammentraf; nachmittags empfing ihn Papst Franziskus im Vatikan zu einer rund 40-minütigen Unterredung.
Lob für Unterstützung der Ukraine
Selenskyj sagte in Aachen, die Ukraine werde Europa stärker machen. Zunächst aber sei ein militärischer Sieg gegen Russland unerlässlich. Putins Aggression richte sich nicht nur gegen sein Land, sondern gegen die europäische Geschichte der vergangenen 70 Jahre und die europäische Zivilisation.
Man stehe im Krieg gegen Russland einem Aggressor gegenüber, der die Geschichte zurückdrehen wolle und "zu jeder Grausamkeit und Gemeinheit" fähig sei. Europa und andere Teile der Erde dürften keine Orte sein, "wo die Ambitionen von Tyrannen das Leben der Völker zerstören". Der russische Präsident müsse vor ein Tribunal gestellt werden.
Mit Blick auf Scholz lobte er die Entscheidung zur "Zeitenwende", die militärische Unterstützung für die Ukraine und die Bereitschaft des Bundeskanzlers, eine Führungsrolle zur Unterstützung der Ukraine zu übernehmen.
Wiederaufbau unterstützen
Steinmeier erklärte, Selenskyj und die Ukraine hätten sich durch die Verteidigung gegen die russischen Invasoren große Verdienste für die Ziele und Werte Europas erworben. Der Krieg belege auf dramatische Weise die Notwendigkeit, immer neu für Freiheit und Demokratie zu kämpfen.
"Wir mussten erleben, dass Unverletzlichkeit von Grenzen, die Souveränität und Selbstbestimmung eines Landes, Menschenwürde und Frieden, die Einhaltung von Regeln und Recht, alles, worauf unser Zusammenleben in Europa aufgebaut ist, dass all das dem russischen Präsidenten Putin nichts bedeutet", sagte der Bundespräsident.
Die ukrainische Bevölkerung habe den berechtigten Wunsch, ihre Zukunft in freier Selbstbestimmung in und mit Europa zu suchen, fügte Steinmeier hinzu. Europa werde auch den Wiederaufbau der Ukraine weiter unterstützen: "politisch, militärisch, finanziell, solange dies notwendig ist".
Ukraine bewegt sich Richtung Europa
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erklärte, Europa habe dem ukrainischen Volk und Selenskyj persönlich sehr viel zu verdanken. Zugleich habe der Krieg die Ukraine und die EU so eng zusammengebracht wie nie zuvor und den Weg der Ukraine in Richtung Europa unumkehrbar gemacht.
Der Bundeskanzler widersprach der These, dass Russland und die Ukraine "ein Volk" seien, wie es "Präsident Putin in seiner imperialistischen und kolonialistischen Verblendung behauptet". Die ukrainische Nation habe ihre eigene lange Geschichte, ihre eigene, sehr vielfältige Kultur, ihre eigenen Traditionen und ihre eigene Identität.
Scholz erklärte, das ukrainische Volk und sein Präsident leisteten seit dem 24. Februar vergangenen Jahres Unermessliches. "Mit allergrößter Tapferkeit verteidigt Ihr Euer Land gegen Russlands brutale Aggression. Mit ungeheurer Kraft trotzen alle Tag für Tag den russischen Invasoren." Die Ukraine verteidige zudem europäische Werte. Dabei könne sie sich auf die "volle Unterstützung" Deutschlands verlassen: "Humanitär, wirtschaftlich und mit Waffen! Aber vor allem: auf Dauer!", erklärte Scholz in seiner Laudatio vor rund 700 Gästen.
Freiheit und Selbstbestimmung in Europa
Für EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ähnelt der Kampf der Ukrainer dem Kampf der Menschen in der DDR und Mitteleuropas 1989 für den Fall des Eisernen Vorhangs. Wie die Menschen damals ihre Freiheit erkämpft hätten, gehe es heute darum, gemeinsam für Freiheit und Selbstbestimmung in Europa zu kämpfen. Von der Leyen bekräftigte ihre Unterstützung für den Weg der Ukraine in Richtung Europa. Das Land zeige seit zehn Jahren, welchen Weg es gehen wolle.
Polens Ministerpräsient Mateusz Morawiecki vergleich Selenskyj mit Premierminister Winston Churchill, der den Kampf Großbritanniens gegen die Nazis angeführt habe. Ein Zurückweichen vor Diktatoren bringe keinen Frieden; der Ausgang dieses Krieges werde entscheiden, in welchem Europa die nächste Generation leben werde.
Bischof Dieser distanziert sich von Patriarch Kyrill I.
Im Vorfeld der Karlspreis-Verleihung verurteilte der Aachener katholische Bischof Helmut Dieser mit deutlichen Worten Gewalt im Namen der Religion. Er distanzierte sich bei einem Gottesdienst vor der Preisverleihung "aufs Deutlichste" von den Positionen des russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. "Es kann keine christliche Ideologie eines russischen Imperiums geben, in das hinein Völker gegen ihre freie Wahl gezwungen und kriegerisch unterworfen werden dürften", so Dieser.
Der Karlspreis wird seit 1950 an Persönlichkeiten und Institutionen vergeben, die sich um die Einigung Europas verdient gemacht haben. Namensgeber ist Kaiser Karl der Große (742-814). Er gilt als erster Einiger Europas und wählte Ende des achten Jahrhunderts Aachen zu seiner Lieblingspfalz.