DOMRADIO: Wie hat der rechtsextreme Brandanschlag die Stadt Solingen verändert?
Tim Kurzbach (Solinger Oberbürgermeister und Diözesanratsvorsitzender im Erzbistum Köln): Er hat sie merklich verändert. Das spürt man an diesen verdichteten Tagen hier sehr. Da ist zum einen die Trauer der Familie. Man darf ja nicht vergessen: Es waren fünf Menschen, zwei Kinder, zwei Jugendliche und eine junge Frau, die damals zu Tode gekommen sind. Diesen tiefen Schmerz darüber haben die Angehörigen natürlich bis heute.
Es gibt die Diskussion um Integration. Es steht die Aussage im Raum, dass damals zu wenig getan worden ist und man zugelassen hat, dass das Thema Integration an Schärfe gewonnen hat oder auch benutzt worden ist.
Wir müssen bis heute wachsam sein und beobachten, was in unserem Land passiert. Wo ist zu wenig Sensibilität, wo werden Minderheiten unterdrückt, wo wird die Würde des Menschen gefährdet? Das sind die Aspekte, die an diesem Tag immer sehr deutlich in Solingen spürbar sind.
DOMRADIO: Viele hochrangige Politiker haben sich zur Gedenkfeier angekündigt, unter anderem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas oder Bundesinnenministerin Nancy Faeser, um nur einige zu nennen. Was erwarten Sie von dem Gedenken?
Kurzbach: Es zeigt, dass das Ganze zwar in Solingen stattgefunden hat, dass es aber nicht nur um Solingen geht. Vielmehr zeigt es, dass das, was damals passiert ist, traurigerweise auch an anderen Orten geschehen ist und immer wieder geschehen kann. Deswegen ist dieses Gedenken auch wichtig.
Es stellt sich immer die Frage, muss das Gedenken sein, ist es notwendig? Ja, es ist notwendig, damit wir unseren Alltag durchbrechen, denn sonst passiert es zu schnell, dass man sagt, es gibt immer etwas anderes Wichtiges, was gerade dran ist. Und dieses Thema Integration machen wir dann irgendwann und irgendwie. Nein, es ist wichtig.
Wir müssen unseren Alltag da durchbrechen und sagen: Schaut euch an, was Menschen anderen Menschen antun können. Soweit darf es nie, nie wieder kommen! Deswegen ist das Gedenken Jahr für Jahr und auch in diesem Jahr so außerordentlich wichtig, weil aus Solingen heraus ein Zeichen für das ganze Land entsteht.
Deswegen hat Solingen auch eine Aufgabe übernommen. Wir müssen immer da mahnend sein, wo Rechtsextremismus, wo Rassismus, wo Antisemitismus in unserem Land laut werden. Da muss aus Solingen eine deutliche Stimme kommen: Nein, das akzeptieren wir nicht. Und wir vergessen nicht, was damals geschehen ist und übersetzen es ins Hier und Heute.
DOMRADIO: Was genau ist an diesem Jahrestag geplant?
Kurzbach: Zunächst einmal wird es die Eröffnung einer großartigen Kunstausstellung geben, wo es um den Brandanschlag vor 30 Jahren und "Niemals vergessen" geht und wo in unserem Zentrum verfolgte Künstler unter einem wunderbaren Kuratorium, dessen Vorsitzender Cem Özdemir war, viele Erinnerungsstücke gesammelt haben. Die Ausstellung kann bis September besucht werden.
Danach wird es ein gemeinsames Gebet mit der DITIB-Gemeinde geben. Das ist auch sehr wichtig. Wir beten zusammen. Wir haben gestern nach dem Besuch beim Mahnmal das erste Mal zusammen gebetet und wenn wir es heute wieder tun, dann zeigen wir, dass wir Juden, Muslime und Christen zusammen eine gemeinsame Hoffnung haben, dass am Ende doch immer die Liebe stärker ist als der Hass und dass wir mit den Verstorbenen verbunden sind.
Deswegen sind diese intensiven Gebetsmomente ein wichtiger Bestandteil des Gedenkens. Das machen wir heute Mittag mit der Familie der Opfer und danach gibt es ein großes gemeinsames Essen für alle.
Das hat sich Mevlüde Genc letztes Jahr, als sie noch lebte, gewünscht. Sie war eine herzensgute Frau, eine gute Mutter.
Meine Großmutter war Rheinländerin, die hätte gesagt: "Liebe geht durch den Magen". Ein bisschen so war das bei Mevlüde auch. Sie wollte, dass alle um einen Tisch sitzen.
Dann hat sie sich gewünscht, dass wir Stelen aufstellen, wo die Bilder ihrer Kinder, die ermordet worden sind, noch einmal sichtbar werden, damit niemand vergisst, dass es um konkrete Menschen ging.
Nach dem Essen folgt dann der große Festakt mit dem Bundespräsidenten, dem Ministerpräsidenten, verschiedenen Ministern des Bundes- und Landeskabinetts und Botschaftern, die noch mal hervorheben: Ja, es war der Brandanschlag von Solingen, aber es geht um eine Debatte, die wir in ganz Deutschland brauchen.
DOMRADIO: Mevlüde Genc haben Sie gerade erwähnt. Sie ist im Oktober vergangenen Jahres gestorben. Sie war Großmutter, Mutter und Tante der Getöteten und stand wie keine andere für Toleranz und Versöhnung. Dieses Jahr ist es das erste Gedenken ohne sie. Wird es ohne sie ein anderes Gedenken werden?
Kurzbach: Zweifelsohne, das ist es schon für mich. Beeindruckend ist, dass sie das irgendwie selbst gespürt haben muss. Als sie mich letztes Jahr bat, über die Gestalt des Gedenkens neu nachzudenken und den Opfern ein Gesicht zu geben, damit dieses Gedenken nicht zum reinen Ritual verkommt, sondern immer einen persönlichen Anteil hat, hat sie, glaube ich, gespürt, dass wir in einer Art Generationenwechsel sind.
Ich habe den Anschlag damals als Jugendlicher selbst mitbekommen. Das war für mich ein sehr, sehr schmerzhafter Moment, der viel in meinem Leben ausgemacht hat. Aber wir haben natürlich viele Generationen, die 1993 gar nicht dabei waren.
Und jetzt ist Mevlüde auch nicht mehr da, die sicherlich eine der authentischsten und überzeugendsten Zeuginnen dessen gewesen ist. Ihre Überlegung war, wie schaffen wir es, die nächsten Generationen zu erreichen, damit das, was in Solingen passiert ist, in den Köpfen bestehen bleibt? Damit hängenbleibt: Das darf nie wieder geschehen. Erinnert euch, wenn ihr zusammen lebt: Ihr sollt Freunde sein und ihr sollt nicht den Hass siegen lassen, sondern die Liebe.
Das ist die Botschaft von Mevlüde, die spüre ich an diesem Tag in meinem Herzen. Aber leider ist Mevlüde nicht mehr unter uns.
DOMRADIO: Wenige Tage vor der Gedenkfeier haben zum ersten Mal drei der vier Täter ihr Schweigen gebrochen, sich an die Öffentlichkeit gewandt und ihre Unschuld beteuert. Welche Auswirkungen könnte das auf das Gedenken haben?
Kurzbach: Das ist eine Debatte, die hier in Solingen kurz vor dem Gedenken aufgegangen ist. Nach unserem Anspruch der Würde eines jeden Menschen haben alle auch ein Recht auf Verteidigung. Das ist die Aufgabe der Gerichte und das werden wir nicht jetzt im Rahmen des Jahrestages aufarbeiten.
Dafür haben wir Gott sei Dank eine unabhängige Justiz. Meine christliche Überzeugung ist, dass Opfer wie Täter gleichermaßen eine Würde haben.
Das Interview führte Elena Hong.