Dommusik mit über 60 Sängern an der Weill-Oper "Street scene" beteiligt

Sozialdrama und Milieustudie mit großem Unterhaltungswert

Ein völlig neues Musikgenre für die Kinder und Jugendlichen der Domchöre ist die aktuelle Opernproduktion im Staatenhaus. Für die intensive Probenarbeit von "Street scene" ließen viele von ihnen sogar die kompletten Osterferien sausen.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Greta bei ihrem Soloeinsatz mitten auf der Bühne / © Bernhard Walterscheid (Kölner Dommusik)
Greta bei ihrem Soloeinsatz mitten auf der Bühne / © Bernhard Walterscheid ( Kölner Dommusik )

Es ist wie im wirklichen Leben. In anonymen Trabantenstädten leben die Menschen nebeneinander her, kennen vielleicht mal gerade eben den Nachbarn zur Rechten und zur Linken, gegebenenfalls noch den aus dem ersten oder zweiten Stock. Der Rest ist Tratsch und Klatsch über das, was beobachtet wird, was zu befürchten steht, in jedem Fall mehr Vermutung als Tatsache ist.

Und was am Ende dann doch mit dem eigenen Leben zu wenig zu tun hat, als dass man eingreifen wollte, um die Chronik einer sich anbahnenden Tragödie aufzuhalten. Schließlich – wenn es zu spät dafür ist – hätte man es besser gewusst, verhindern wollen. Aber es war ja einfacher wegzusehen; man war zu sehr mit sich selbst beschäftigt: mit dem eigenen kleinen Mikrokosmos. Ja, das Unglück – der Doppelmord in den mehr oder weniger eigenen Wänden – grauenhaft. Gab es nicht Anzeichen genug dafür? Und trotzdem: Das Leben geht weiter, muss ja… Als wäre nichts passiert.

So oder so ähnlich schildert es derzeit die aktuelle Opernproduktion und Kölner Erstaufführung "Street scene", eine amerikanische Oper in zwei Akten von Kurt Weill, an der diesmal 60 Sängerinnen und Sänger der Kölner Domchöre beteiligt sind und die in Lower East Side, einem Einwandererviertel New Yorks, in den 1940er angesiedelt ist. Die Anwohner, nicht nur geplagt von anhaltender Hitze und Moskitos, sondern auch von den Nachwehen der Wirtschaftskrise und der Großen Depression in diesen Jahren, pflegen auf der Straße das abendliche Schwätzchen im Schatten ihrer stickigen Wohnungen.

Heißestes Thema ist die Affäre von Anna Maurrant, deren Mann Frank, ein Trinker, wenig Gefühl für die Sehnsucht seiner Frau nach ein bisschen Glück in diesen trostlosen Zeiten aufbringt. Deren Tochter, die Angestellte Rose Maurrant, wird von mehreren Verehrern bedrängt: Während ihr Harry Easter eine Karriere im Showbusiness verspricht, liebt sie der jüdische Student Sam wirklich und will sie zum gemeinsamen Ausbruch aus dieser perspektivlosen Enge überreden.

Eifersuchtsdrama endet im Doppelmord

Dann sind da noch Daniel Buchanan, der nervös auf die Geburt seines ersten Kindes wartet, Abraham Kaplan, der sich verärgert über den Anti-Kapitalismus auslässt, und das deutschstämmige Mädchen Jenny Hildebrand, das sich über seinen bestandenen Schulabschluss freut, während der Italiener Lippo Fiorentino gegen die unerträgliche Schwüle und Lethargie eine Runde Eis ausgibt. Als Frank Maurrant seine Frau beim Seitensprung erwischt, fallen Schüsse... Aus der Eifersucht eines tyrannischen und scheinbar gefühlskalten Alkoholikers wird Doppelmord.

Die vermeintlich heile Hinterhof-Welt dieser multikulturellen Hausgemeinschaft – das originelle Bühnenbild spiegelt die vielen Parallelschicksale als großes Sozialdrama in eindrucksvoller Synchronität – fällt nach diesem Akt von Gewalt und viel Herzschmerz vorübergehend in sich zusammen, um zum Finale wieder genau dort anzuknüpfen, wo das Ganze seinen Ausgang nimmt: im alltäglichen Einerlei des monoton Wiederkehrenden und Erwartbaren…

Mehr Musical als Oper

Es sind viele unterschiedliche Rollenporträts, die der Librettist Elmer Rice in seiner "Straßenszene" zeichnet. Und um den gewählten Schauplatz – die Straße, die dem 1935 in die USA emigrierten Weill als musikdramaturgische Chiffre dient – auch glaubwürdig und quirlig zu gestalten, tummeln sich stets viele Kinder vor dem Wohnblock. Sie sind wesentlicher Bestandteil dieser klangvollen Milieustudie. Und sie machen ihre Sache ausgesprochen gut – nicht nur musikalisch, auch schauspielerisch.

"Die Atmosphäre eines solchen Stücks, das mehr an ein Musical als an eine klassische Oper erinnert, war für uns alle eine neue, aber tolle Herausforderung", sagt Oliver Sperling über die intensive Probenarbeit im Vorfeld. Im letzten Jahr war er sogar nach Madrid gereist, um sich diese Inszenierung, die nun als Koproduktion in Köln gezeigt wird und von hier noch nach Monaco geht, auf ihre logistische Machbarkeit hin zu prüfen. Sogar chorinterne Castings waren notwendig, um für die Figuren Grace, Joan und Merthel – Teenager mit kleinen Soloauftritten – eine passende Besetzung aus den eigenen Reihen zu finden.

Zeitintensive Vorbereitung mit viel Detailarbeit

"Die Probenarbeit mit der Choreografin lief hochkonzentriert ab, sonst hätten wir die vielen unterschiedlichen Szenen, die von den Kindern gespielt werden, gar nicht in diesem begrenzten Zeitrahmen erarbeiten können", erklärt der Leiter des Mädchenchores am Kölner Dom. Alle hätten ausgesprochen viel Zeit in dieses Opernprojekt investiert und dafür sogar auf die Osterferien verzichtet. "Denn diesmal gab es eine noch detailliertere Vorbereitung als bei den sonst üblichen Beteiligungen im Staatenhaus."

Man sehe allen, die bei "Street scene" mitmachten, die Ernsthaftigkeit an, mit der sie auch die inhaltliche Entwicklung der facettenreichen Bühnencharaktere mitverfolgten, aber auch den Spaß, den sie bei dem diesmal recht engen Kontakt mit den echten Profis auf der Bühne hätten. "Die Inszenierung erfordert schnelles Reagieren; sie ist energie- und temporeich. Dem müssen sich die Kinder anpassen und dabei vieles gleichzeitig im Kopf haben", ergänzt Domkapellmeister Eberhard Metternich. "Aber daran wachsen sie eben auch." Letztlich seien alle "Feuer und Flamme" für diese flotte Musik mit ihren eingängigen Ohrwürmern. "Der Ausflug in ein völlig anderes Musikgenre macht allen unglaublich viel Spaß."

Solistinnen kommen auch aus dem Mädchenchor

Für Greta ist es zwar schon ihre siebte Oper, aber da sie diesmal auch als Solistin auftritt, zweifelsohne ihre aufregendste. In der Rolle der Joan habe sie sofort überzeugt, lobt Sperling die 14-Jährige. Wie auch Nora, Nelly, Helene und Carla. Sie alle haben sich beim Vorsingen oder Vorsprechen für einen der zu besetzenden Charaktere qualifiziert. Britney muss nur zwei Sätze sprechen – dafür aber in perfektem New Yorker Englisch. Das fällt der jungen Sängerin mit afrikanischen Wurzeln, deren Muttersprache Englisch ist, nicht sonderlich schwer.

Trotzdem hat ein Sprach-Coach sie darauf vorbereitet, dass sich ihr Einsatz in die Rhythmik der Musik einfügen und sie den dafür notwendigen Schwung hinbekommen muss. Außerdem spielt Britney noch in der Gruppe der Mädchen mit, die gerade in weißen Festkleidern ihren Highschool-Abschluss feiern. Ein lustiger Zufall, meint sie. Schließlich mache sie selbst auch in wenigen Wochen ihr Abitur an der Kölner Liebfrauenschule.

Kurt Weill wollte mit "Street scene" eine "amerikanische Oper" schreiben, die das eingängige Broadway-Musical mit der europäischen Operntradition verschmelzen lässt und alle nötigen Elemente einer "guten Show", wie er selbst sagt, haben sollte. Das Ergebnis ist ein Bühnenstück mit großem Unterhaltungswert. Neben Arien, die manchmal an Puccini erinnern und dann wieder Anleihen an Gershwin zeigen, verbinden sich in dieser Komposition Einflüsse von Jazz, Blues und Swing, aufgepeppt durch charakteristische Song- und Tanzsequenzen nach Broadway-Art. Diese Mischung macht "Street scene" so besonders und letztlich zu einem Musikvergnügen für alle Generationen.


Die Knaben des Kölner Domchores zeigen vollen Einsatz / © Bernhard Walterscheid (Kölner Dommusik)
Die Knaben des Kölner Domchores zeigen vollen Einsatz / © Bernhard Walterscheid ( Kölner Dommusik )

Das Leben in Lower East Side, einem New Yorker Einwandererviertel, spielt sich viel auf der Straße ab / © Bernhard Walterscheid (Kölner Dommusik)
Das Leben in Lower East Side, einem New Yorker Einwandererviertel, spielt sich viel auf der Straße ab / © Bernhard Walterscheid ( Kölner Dommusik )

Die Straße dient Kurt Weill als musikdramaturgische Chiffre / © Bernhard Walterscheid (Kölner Dommusik)
Die Straße dient Kurt Weill als musikdramaturgische Chiffre / © Bernhard Walterscheid ( Kölner Dommusik )
Quelle:
DR