DOMRADIO.DE: Wenn man in der eigenen Heimat oder im Urlaub in die Kirche geht, dann erlebt man eigentlich immer einen ähnlichen Gottesdienst. Aber das war nicht immer so, oder?
Prof. Dr. Winfried Haunerland (Professor für Liturgiewissenschaft der katholisch-theologischen Fakultät an der Universität München): Nein, das ist eine idealistische Vorstellung, als wenn es am Anfang einen einheitlichen Gottesdienst gegeben hätte, der sich dann in die Vielfalt ausgebreitet hätte. Wir werden historisch eher davon ausgehen müssen, dass eine Fülle von unterschiedlichen Ausdrucksformen existiert und sich entwickelt hat und dass dann zunehmend eine Orientierung an den zentralen Orten geschah, sodass wir selbst im Westen eigentlich eine Fülle von verschiedenen Ritus-Familien oder Riten gekannt haben.
Heute kennen wir ja noch den Mailänder Ritus neben dem Römischen Ritus, und den Spanischen Ritus, natürlich eine relativ kleine Verbreitung im Verhältnis zum Römischen Ritus, der sonst insgesamt weitgehend im Westen benutzt wird.
DOMRADIO.DE: In seiner Videobotschaft hat der Papst auch gesagt, dass es eine der größten Errungenschaften des Zweiten Vatikanischen Konzils sei, dass man die Traditionen unterschiedlicher Völker an den Römischen Ritus anpassen könnte. Was hat sich denn in der Hinsicht in den vergangenen 60 Jahren getan?
Haunerland: Im Prinzip relativ wenig. Das Zweite Vatikanische Konzil hat tatsächlich die Tür einen Spalt geöffnet, indem es deutlich gemacht hat, alle rechtlich anerkannten Riten sollen in gleicher Weise wertgeschätzt werden. Und es hat damit deutlich gemacht, dass dies nicht nur für die Riten gilt, die bereits anerkannt sind, sondern das Zweite Vatikanische Konzil hat durchaus auch die Möglichkeit eingeräumt, dass sich neue Riten oder Ritusvariationen entwickeln können. Man hat das prinzipiell offen gesagt gerade im Blick auf die Missionsländer.
Aber ein wirklich weltweit wahrgenommener Versuch ist eigentlich nur in Zaire beziehungsweise im Kongo umgesetzt worden, wo tatsächlich der Römische Ritus mit afrikanischen Mentalitäten verbunden worden ist, indem dort Ausdrucksformen, auch liturgische Aufgaben dazugekommen sind, die es so bei uns nicht gibt und auch gar nicht geben könnte, weil sie gar nicht unserer Mentalität entsprechen würden. Ansonsten hat man relativ zurückhaltend auf solche Inkulturationsbemühungen reagiert.
DOMRADIO.DE: Nichtsdestotrotz, wenn man sich auch jetzt in verschiedenen Kulturen den Gottesdienst anschaut, spürt man ja trotzdem, dass da eine unterschiedliche Mentalität vorhanden ist., wenn man jetzt über die Reihenfolge oder den Ablauf der Elemente spricht. Warum könnte es ein Gewinn für die Liturgie sein, wenn man die lokalen oder regionalen Anpassungen noch konkreter vornehmen würde?
Haunerland: Ich glaube, es geht gar nicht so sehr um die Frage der Reihenfolge, von bestimmten Elementen mal abgesehen, sondern es geht um die Frage, wie ist die gesamte Empfindung. Das kann man in Europa schon erleben. Der große Unterschied besteht in den unterschiedlichen musikalischen Traditionen.
In dem Moment, wo in bestimmten Ländern die eigene Musiktradition auch für den Gottesdienst fruchtbar gemacht wird, bekommt der Gottesdienst eine andere Mentalität. Und das gilt natürlich besonders auch für die jungen Kirchen in den Ländern der anderen Kontinente, die nicht schon per se eine westliche und europäische Musiktradition haben.
DOMRADIO.DE: Wie könnte man den Wunsch des Papstes denn umsetzen? Wie könnte diese Anpassung an Traditionen aussehen?
Haunerland: Die Menschen in Amazonien müssen sagen, welche Ausdrucksformen mit ihrer Kultur verbunden sind. Und dann müssen sie selbst auch prüfen. Dabei wird sicher Rom helfen und sagen, welche Elemente tatsächlich zu ihrer Kultur gehören und nicht notwendigerweise auch Träger von anderen religiösen, also vorchristlichen oder unchristlichen, religiösen Vorstellungen sind.
In Zaire etwa war es so, dass es dort einen Herold gibt, also eine eigene Form von einem, der die gesamte Feier und die Feiergemeinde zusammenhält. Dass es Anrufungsformen gibt, die bei uns nicht üblich wären. Wir haben andere Länder, wo zum Beispiel andere Bilder benutzt werden mussten. In Australien etwa kamen bestimmte Formen von abstrakten Begriffen überhaupt nicht vor, da musste man konkreter werden.
Und das müssten die Länder Amazoniens versuchen zu sagen: Was sind bei uns kulturelle Ausdrucksformen, wie wir unser Miteinander aber auch unsere Beziehung zur Schöpfung, unsere Beziehung zum Schöpfer in Ausdruck bringen können? Dann muss man schauen, wie man das in den Gottesdienst inkulturiert und integrieren kann.
DOMRADIO.DE: Klingt nicht so, als ob das ganz schnell gehen würde.
Haunerland: Nein, ich glaube nicht, dass es schnell gehen würde. Deshalb glaube ich auch nicht, dass das etwas ist, wo man einfach sagen kann: Das machen wir jetzt. Im Kongo hat man damals 15 Jahre gebraucht, bis endlich ein vorläufig verbindlicher Ritus existierte, der dann auch allgemein eingeführt wurde.
Die Menschen in Amazonien, die Kirche in Amazonien dürften sich jetzt sicher auch durch den Papst ermutigt fühlen, vorsichtig Elemente auszuprobieren und dann eben daran zu arbeiten, dass daraus Formen werden, die eben nicht nur für einzelne Experimente gut sind, sondern aus denen sich ein gültiger Vollzug entwickeln kann, der für viele Menschen dann auch tragend ist.
Das Interview führte Dagmar Peters.