Es hat mehr als 20 Jahre gekostet, bis Spanien nach den Aufdeckungen der liberalen US-Tageszeitung Boston Globe 2002 über Missbrauch in der Kirche schrittweise die eigenen Amtsträger anklagte. Was woanders wie ein Erdbeben und Tsunami daher kommt, wird im Geburtsland des Opus Dei und der Jesuiten nur sehr zögerlich aufgedeckt.
Dass dies überhaupt geschah, ist einer kleinen spanischen Regionalzeitung zu verdanken, die ab 2015 mutig über den Missbrauch in dortigen Einrichtungen berichtet: La Opinión de Zamora. Einige kleinere religiöse Blätter und online-Portale zogen nach. Erst 2018 bildet die linksgerichtete nationale und auflagenstarke Tageszeitung El País ein eigenes Rechercheteam, um den jetzt immer lauter werdenden Opfern eine Plattform zu geben.
Auch Personen wie Juan Ignacio Cortés gehören zu den Helden des spanischen Journalismus. Er schrieb 2018 das Buch "Lobos con piel de pastor: pederastia y crisis en la iglesia catolica" (Wölfe im Pelz des Hirten: Pädastrie und Krise in der Katholischen Kirche).
"Es war für mich sehr hart, ich habe mich lange gewehrt. Aber wer einmal einen Opfer-Bericht gehört hat, der kann nicht mehr zur anderen Seite schauen", sagt er. So ging es auch den Journalisten von El País. Sie konfrontierten Papst Franziskus 2021 mit den bis dato 251 registrierten Fällen. Dieser fordert die Spanische Erzbischöfliche Konferenz (CEE) auf, bei der Aufklärung kooperativer zu sein.
Es dauerte noch ein Jahr, bis die linke Koalitionsregierung eine unabhängige Bestandsaufnahme der Fälle einleitete. Der den Sozialisten (PSOE) nahestende Universitäts-Professor Ángel Gabilondo wurde am 10. März 2022 als Ombudsmann beauftragt, eine Bestandsaufnahme über die Fälle zu erarbeiten, zusammen mit Javier Cremades. Der dem Opus Dei nahestehende Anwalt wurde dafür direkt von der CEE beauftragt.
Das ganze sollte ein Jahr dauern, "aber leider haben einige Diözesen nicht so mitgearbeitet, wie wir uns das gewünscht hätten", gibt Cremades zu, der mit seiner angesehenen Kanzlei zwischen den Fronten steht und sichtlich erschöpft scheint, von den Abgründen, die sich bei den Ermittlungen vor ihm auftun. Der offizielle unabhängige Bericht steht immer noch aus, die Zahlen sind aber weitestgehend bekannt. Er soll in den kommenden Wochen vorgelegt werden.
Derzeit füllt ohnehin der Fall der spanischen Frauen-Nationalmannschaft und der diskriminierenden Machtstrukturen des Verbandes alle Seiten und Fernsehminuten. Über solche Fälle herrscht in der Kirche komplettes Schweigen.
Opfer und Täter sind vor allem männlich und aus dem Klerus
Es gibt Zeugenaussagen von mindestens 1.802 Opfern sexuellen Missbrauchs innerhalb der Kirche. So steht es im Abspann des Films "Verano en rojo" (Sommer in Rot) von Belén Macías, der darstellt, wie verkrampft Justiz, Gesellschaft und Kirche mit den Opfern in Spanien umgehen. Er ist gerade ins Kino gekommen, aber es ist abzusehen, dass es kein Blockbuster werden wird.
Die angesehene katalanische Tageszeitung La Vanguardia gesteht ein, dass der Film ein Tabuthema behandelt. Auch auf ihren Seiten wurde lange Zeit wenig darüber berichtet. Es scheint ein Pakt der Gesellschaft zu sein, die Pfarrer, Priester, Nonnen und Mönche nicht an den Pranger zu stellen.
Nach Recherchen von El País haben mindestens 60 Bischöfe geschwiegen und Missbrauchsfälle verheimlicht. Im Juni dieses Jahr veröffentlichte die CEE ihren eigenen Bericht zu den Vorwürfen mit dem Titel "Para dar luz (um Klarheit zu schaffen)". Er beziffert die Zahl der seit 1945 eingegangenen Beschwerden auf insgesamt 927, und nennt darin 728 Angeklagte, während El País bei 1.957 Opfer bleibt.
Die Aggressoren sind nach der Untersuchung der CEE in der Mehrheit Männer (99 Prozent), die dem Klerus angehören (52 Prozent), obwohl es auch Ordensleute gibt, die nicht zum Priester geweiht wurden (32 Prozent) und mit der Kirche verbundene Laien (12 Prozent). Viele der Täter sind bereits verstorben. Auch die meisten Opfer sind demnach Männer (82,6 Prozent).
Bezogen auf den Ort, an dem sie auftraten, ereigneten sich mehr als die Hälfte der 1.000 Fälle in Schulen. Aber die rund 2.600 Schulen unter dem Dach der CEE erleben dennoch keinen Exodus. Das liegt auch daran, dass die spanischen Medien das Thema nur am Rand erwähnen. Die spanischen Gläubigen "kündigen" der Kirche nicht.
Anders als in Deutschland ist es zudem nicht möglich, sich komplett aus der Finanzierung dieser Einrichtungen auszuklinken. Zwar kann bei der Steuererklärung angeben werden, dass nicht die Kirche, sondern soziale Einrichtung den Pflicht-Spenden-Obolus bekommen sollen, aber darunter fallen wiederum viele kirchliche Institutionen wie die Caritas.
Kirche ist Teil der spanischen Kultur
Nach Angaben der CEE gibt es in Spanien knapp 23.000 Pfarrgemeinden, 70 Diözesen und rund 16.000 Priester in einem Land mit 47 Mio. Einwohnern. Mehr als 1,5 Mio. Spanier lernen in Einrichtungen mit christlicher Ideologie und rund 57 Prozent aller spanischen Schüler wählen katholische Religion als Fach statt der Alternative Ethik.
Insgesamt gibt es rund 2.500 Grund- und weiterführende Schulen, die offiziell dem EC unterstellt sind. Hinzu kommen 15 katholische Unis und viele weitere Hilfs- und Weiterbildungsorganisationen. Auch zwei der weltweit größten Business Schools - Esade und Iese - sind klar den Jesuiten bzw. dem Opus Dei zugeordnet.
Der spanische Kommunikationsexperte Enrique Sánchez glaubt, dass Kirche Teil der Kultur ist und Spanien deswegen auch eines der Länder ist, das am meisten religiöse Feste feiert. Jede größere Stadt hat eine Schutzpatronin, eine "virgen", die einmal im Jahr gefeiert wird: "Das bedeutet aber nicht, dass wir besonders religiös sind".
Aber es ist einer der Gründe, warum über die enorme Macht des Opus Dei in Unternehmen und Banken sowie der Jesuiten in der intellektuellen Bildung und im alltäglichen Leben wenig berichtet wird und wenn dann nicht kritisch. Die Eltern meldeten nicht massiv ihre Kinder von religiösen Schulen ab, weil es dort Fälle von Missbrauch gab.
Die Macht der Bischöfe weicht nur langsam auf
In dem von dem Investigativjournalisten Jordi Évole produzierten Dokumentarfilm "Amén. Francisco responde" berichtet ein junger Mann von seinen Missbrauchserfahrungen in einer Opus Dei-Schule in Bilbao. Zwischen 2008 und 2010 wurde der heute 26 Jahre alte Juan von einem Lehrer sexuell missbraucht. Das Gericht verurteilte den Täter, aber seine Haftstrafe wurde auf zwei Jahre verkürzt und er musste nicht ins Gefängnis. Die Schule habe Juan nie geglaubt und der Opus Dei hab ihn massiv unter Druck gesetzt, berichtet die Mutter.
Nach spanischen Medienberichten wird die Einrichtung dennoch weiter mit staatlichen Mitteln gefördert. Cortés verurteilt das, aber er fällt kein negatives Gesamturteil über die spanische Kirche als Institution: "Sie machen an der Basis eine gute Arbeit, sie halten die Gesellschaft auch in gewisser Weise zusammen, aber es fehlt eine Demokratisierung der kirchlichen Entscheidungsprozesse in Spanien, mehr Transparenz über die Finanzen und natürlich auch die Einbindung von Frauen in das Management. Es ist ein völlig veralteter Machtapparat, der ohne Frage Schaden angerichtet hat."