domradio.de: Militärexperten sagen: Dieser Putsch, der war wirklich desaströs geplant. Im Internet spekulieren deswegen viele, Erdogan selbst stecke dahinter. Trauen Sie Erdogan das zu, dass er einen Militärputsch inszeniert, um seine Position zu stärken?
Lale Akgün (Ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete): Sie wissen, dass schon seit Jahrzehnten der sogenannte türkische "tiefe Staat" Dinge inszeniert und gemacht hat, die einzelne Bürger gar nicht nachvollziehen konnten. Der Staat wurde immer wieder gegen missliebige Bürger und Oppositionell eeingesetzt. Wie die Verbindungen zwischen dem tiefen Staat und den Putschisten sind, und welche Rolle Erdogan dabei spielt, bleibt für mich noch im Verborgenen.
domradio.de: Erdogan hat den Militärputsch "ein Geschenk Gottes" genannt und will das türkische Militär - so wörtlich - "säubern". Was zeigt das über ihn?
Akgün: Wenn er nicht mit dem Militär an Bord war, heißt das, dass ihm das sehr gelegen kommt. Erdogan hat ja in der letzten Zeit ein wenig an Popularität verloren. Sie wissen: Um türkischer Staatspräsident zu sein, muss man eine Universitätsausbildung haben – das konnte er nicht nachweisen. Er ist mit gefälschten Diplomen aufgetreten. In der Türkei haben Menschen angefangen zu mosern, dass immer mehr junge Leute im Südosten in Kämpfen mit der PKK sterben.
Er wollte unbedingt Präsident werden, ein Präsident mit allen Vollmachten ausgestattet. Jetzt lässt er sich feiern und ich glaube, dass kommt ihm schon sehr zu Gute, um sein zu Ziel zu erreichen und das ist: uneingeschränkter Herrscher in der Türkei zu werden, also eine Zivildiktatur zu errichten.
domradio.de: Zehntausende Türken sind auf die Straße gegangen, um jetzt ihre Solidarität mit Erdogan zu demonstrieren. Stehen Erdogans politische Gegner, steht die Opposition jetzt chancenlos da?
Akgün: Die Opposition ist in einer schwierigen Situation. Kein Mensch kann einen Militärputsch gut heißen. Natürlich war auch die Opposition angehalten, zu sagen, dass sie einen Militärputsch nicht gut findet und dass demokratische Mittel nicht übergangen werden dürfen. Ich schließe mich dieser Aussage natürlich an. Niemand kann einen Militärputsch gut finden.
Aber dass Erdogan als Held der Demokratie gefeiert wird, ist ein Treppenwitz der Geschichte. Was sollen sie jetzt sagen? Sollen sie ihn jetzt nicht mitfeiern, weil er den Militärputsch überstanden hat? Sie haben eh keine Chancen.
Über 90 Prozent der Medien werden von Erdogan beherrscht. Das heißt, die Opposition kann gar nicht mit ihrer Meinung an die Öffentlichkeit gehen. Im Moment, vor wenigen Tagen, hat man ja einer Oppositionspartei verboten, in einer Provinzstadt überhaupt aufzutreten. Unter solchen Bedingungen kann die Opposition nicht viel machen. Ich finde, wir können es uns nicht mehr leisten, immer die Opposition in der Türkei für die Umstände für schuldig zu erklären. Sie hat keine Chancen mehr, gegen diese Macht anzukommen.
domradio.de: Was heißt das jetzt für die nähere Zukunft des Landes? Freie Bahn für Erdogan?
Akgün: Das ist eine sehr knappe, aber sehr treffende Bezeichnung der Situation. Ich fürchte, Erdogan kann jetzt durch nichts mehr aufgehalten werden. Auch das Ausland hat keine Wirkung mehr.
Im Gegenteil: Wir müssen darüber nachdenken, wie wir in Deutschland die Erdogan-Anhänger zähmen. Denn ich fürchte, dass das, was in der Türkei die Oppositionellen erfahren, droht auch die türkischen Oppositionellen in Deutschland. Denn wer auf die Straße gegangen ist, waren natürlich die Anhänger von Erdogan, genau wie in Deutschland auch. Und ich fürchte, dass sich diejenigen, die sich gegen ihn stellen, auch in Deutschland mit Repressalien rechnen müssen.
domradio.de: Der Putschversuch und seine Niederschlagung bringen jetzt auch westliche Politiker in die Bredouille: Einerseits mussten sie den Putsch verurteilen, andererseits sehen sie Erdogans Gebaren sehr problematisch. Was meinen Sie, wie sollen sich Angela Merkel & Co. jetzt positionieren?
Akgün: Angela Merkel und ihre Kollegen sollten meiner Meinung nach streng demokratisch vorgehen und beurteilen. Es kann nicht angehen, dass man für eine sehr zweifelhafte Lösung des Flüchtlingsproblems mit Erdogan zusammenarbeitet.
Schon letztes Jahr im November, als Angela Merkel Erdogan kurz vor den Wahlen in der Türkei besucht hat und ihn politisch aufgewertet hat, war das ein sehr unnötiger Schritt in Bezug auf die innerpolitische Situation in der Türkei.
Ich erwarte von den europäischen Politikern, dass sie Erdogan nicht mehr als jemanden ansiehen, den man nun mal umschmeicheln muss, weil man ihn braucht, sondern an ihn die gleichen Kriterien anlegt, wie sie auch an jeden Politiker in Europa angelegt werden.
Das Gespräch führte Hilde Regeniter.