Die Schutzmaßnahmen des Staates hätten nicht nur Auswirkungen auf das kirchliche Leben, weil Gottesdienste und kirchliche Veranstaltungen nicht stattfinden könnten.
Relevant sei die Beobachtung, dass die existenzielle Bedrohung, die von der Infektionserkrankung ausgehe, und die Reduktion des sozialen Lebens durch das Kontaktverbot erhebliche Auswirkungen auf die seelische Situation der Bevölkerung und ihr Sozialverhalten habe.
Deshalb sei es notwendig, dass die Kirche auf die Bedeutung einer seelischen Daseinsfürsorge und einer Prävention vor seelischen Erkrankungen und traumatische Störungen hinweise.
Psychosoziale Folgen der Corona-Krise sind bereits erheblich
Es sei bereits jetzt nachweisbar, dass der Verlust an Tagesstruktur und die Veränderung der sozialen Kontakte zu schwerwiegenden Problemen führten. Eine nicht unerhebliche Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern neige zu Depressionen und Angstzuständen. Immer häufiger komme es zu nennenswerten Konflikten im häuslichen Umfeld und Gewaltanwendungen.
"Ihr kenntnisreicher Blick auf die Seele und die Nähe zur Realität vieler Menschen fordert, dass die Kirche als Anwalt der Seele auftritt und intensiv verdeutlicht, dass in den kommenden Wochen und Monaten nicht nur Infektionszahlen und Wirtschaftsdaten, sondern auch die Seelen der Menschen in den Blick genommen werden müssen," so Dr. Picken.
Staat missachtet seelische Daseinsfürsorge
Es sei deshalb bedeutsam, dass die Kirchen wieder möglichst bald ihre Gottesdienste aufnehmen können müssten, um die Seele der Menschen zu stärken. "Ein Verbot von Gottesdiensten, auch wenn sie in kleineren Gruppen und unter Beachtung von Hygienevorschriften stattfinden würden, ist ein fragwürdiger Eingriff des Staates in die Religionsfreiheit.
Auch ist die Entscheidung der Bundesregierung angesichts anderer Lockerungen von Vorschriften unverhältnismäßig. Sie missachtet in fahrlässiger Weise die existentielle Bedeutung seelischer Daseinsfürsorge und offenbart einen zu kurzsichtigen Blick auf die Coronakrise und ihre Folgen," sagt der promovierte Politologe.
Die Kirchen dürften sich deshalb als Anwälte der Seele unmöglich mit diesen Regelungen zufriedengeben. Der Protest des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und des Kölner Erzbischofs, sowie anderer Bischöfe sei daher nachvollziehbar und weiter geboten.
Dringend geboten: Seelische Begleitung der Risikogruppen
Wichtig sei auch, auf die seelische Belastung besonders der Risikogruppe aufmerksam zu machen, die sich noch über einen langen Zeitraum zum Schutz isolieren müsse. Für diese Menschen gebe es sobald keine Rückkehr zur Normalität. Umso wichtiger sei die Frage, wie diese Menschen unterstützt und dennoch gezielt in das soziale Leben eingebunden werden könnten.
Auch betont Bonns Stadtdechant unter Hinweis auf seine Erfahrung als Kinder- und Jugendseelsorger, dass eine gezielte Aufarbeitung der Coronakrise jetzt bereits im Blick sein müsse, damit Kinder und Jugendliche die Erfahrung von existenzieller Bedrohung und radikaler Veränderung ihrer Lebensumstände gut verarbeiten könnten. "Bei der Rückkehr zum Kindergarten- und Schulalltag muss die Verarbeitung der Krise ausdrücklich zum Thema gemacht werden, sonst sind posttraumatische Störungen wahrscheinlich," so Dr. Picken.
Gleiches gelte für die Berufstätigen in den Pflegeberufen, die starken zusätzlichen Belastungen ausgesetzt seien. Ein direktes Zurückkehren zur Tagesordnung berge viele Risiken. Bonn Stadtdechant ist seit 25 Jahren in Einzel- und Sterbebegleitung, sowie in der Hospizbewegung aktiv.
Corona-Krise fordert Debatte über gesellschaftliche Veränderungen
Von besonderer Wichtigkeit sei es ferner, dass die Bischöfe in der öffentlichen Debatte darauf drängten, dass der Rückweg aus der Coronakrise in die Normalität nicht bedeuten dürfe, dass die Gesellschaft einfach dort weitermache, wo sie aufgehört habe. Die Krise fordere eine grundsätzliche Infragestellung des wirtschaftlichen Lebens und des sozialen Miteinanders.
Worauf die Bankenkrise, die Klimaveränderung und die Flüchtlingssituation bereits hingewiesen hätten, würde durch die Coronakrise verstärkt sichtbar. Die moderne Lebensweise einer konsum- und leistungsorientierten Welt gefährde die Existenzgrundlagen des menschlichen Lebens.
Entsprechend sei eine kulturkritische Debatte notwendig, damit der Mensch zu einer ganzheitlichen Lebensweise zurückfinde und sich das soziale Leben und das Verhältnis des Menschen zur Umwelt verändern könne. "Es wäre fatal, wenn wir aus dieser Krise nicht lernen und den Anstoß mitnehmen würden, unser Leben grundsätzlich zu verändern," so Stadtdechant Dr. Picken.
Es könne ein historischer Beitrag der Kirchen in dieser schwierigen Lage sein, mit dafür Sorge zu tragen, dass die Coronakrise als Chance für einen Umbau der Gesellschaft und der Lebenseinstellung genutzt werde, sagt der promovierte Politologe.
In diesem Zusammenhang habe es große Bedeutung, dass die Kirchen die christlichen Antworten auf die Sinnfragen klar und verständlich formulierten, um vielen verunsicherten Menschen eine Orientierung zu bieten. "Es gibt zahlreiche Menschen, die bisher ohne Religion ausgekommen sind, aber jetzt nicht wissen, wie sie dem ungewohnten Gefühl von Existenznot und Sinnkrise begegnen sollen," erklärt der Bonner Seelsorger.