DOMRADIO.DE: Welches Szenario meinen die Klimaforscher, wenn sie von einem drohenden Klima-Notfall sprechen?
Anika Schroeder (Klima-Referentin bei Misereor): Der Klima-Notfall wird dann erreicht, wenn die Treibhausgas-Emissionen nicht in wenigen Jahren massiv heruntergefahren werden, nämlich Richtung Null. Die Wissenschaftler sprechen davon, dass unumkehrbare Veränderungen im Klimasystem eintreten können, die sich dann selbst verstärken. Zum Beispiel, wenn einmal das Eis abgeschmolzen ist, dann ist es unwiederbringlich verloren, selbst wenn die Klimapolitik dann irgendwann ernst macht mit Klimaschutz. Und auch wenn die Permafrostböden einmal aufgetaut sind, dann werden sie nicht so schnell wieder frieren.
Die Gefahr ist, dass aus diesen permanent gefrorenen Böden in Sibirien und Russland Treibhausgase frei werden, die bisher Jahrmillionen gebunden waren. Das sind CO2 und Methan, die - egal was der Mensch später tun wird - weiterhin in die Atmosphäre entweichen und dafür sorgen, dass die Temperaturen weiter ansteigen. Das sind sogenannte Kipppunkte im Klimasystem. Das würde das Antlitz der Erde massiv verändern und in vielen Regionen dieser Welt die Frage aufwerfen, ob menschliches Überleben überhaupt noch möglich ist.
DOMRADIO.DE: Wie ist für Menschen der Klimawandel konkret spürbar?
Schroeder: Die Forscher haben einige Grafiken zusammengeführt, die sehr deutlich zeigen, wo der Klimawandel heute schon spürbar ist. Diese zeigen, wie die Temperaturen weiter steigen, die Eismenge der Gletscher weniger wird. Das würde zum Beispiel die Trinkwasserversorgung von vielen Millionen Menschen gefärden. Sie zeigen auf, dass der Meeresspiegel in den letzten zehn Jahren über 30 Millimeter angestiegen ist.
Wir spüren den Klimawandel ja täglich. Wir sehen es in den Medien: Waldbrände in Kalifornien, Sibirien und Australien. Da zeigt sich doch ganz deutlich, dass der Klimawandel längst angekommen ist. Das trifft vor allem die Ärmsten der Armen. Denn die sind diejenigen, die sich am wenigsten schützen können und in wenig stabilen Häusern und Hütten an steilen Ufern von Flüssen und an Küstenstreifen leben, wo Naturkatastrophen auftreten.
DOMRADIO.DE: Wo genau?
Schroeder: Zum Beispiel in Bangladesch. Dort gibt es die zeitweise überschwemmten Gebiete, die Sundarbans, wo Menschen leben, deren Grundwasserreserven gerade total verändert werden, weil der Meeresspiegel steigt und dort eindringt. Das Grundwasser ist somit zunehmend salzhaltiger. Das führt wiederum zu erhöhter Säuglingssterblichkeit und allgemein zu Gesundheitsproblemen.
Das sind heute schon massive Veränderungen, die auftreten. Das Dengue-Fieber nimmt zu, weil das Verbreitungsgebiet von Mücken und den vektorbasierten Krankheiten (Krankheitsübertragung durch Tiere, Anm.d.Red.) zunimmt. Wir sehen heute schon, dass Menschen im Pazifik, zum Beispiel auf Kiribati, mit der Realität fertigwerden müssen, dass sie in Zukunft nicht in ihrem Staatengebiet leben können. Kinder in Kiribati lernen in der Schule zum Beispiel jetzt schon Lieder, die sich damit auseinandersetzen, dass sie eine neue Heimat finden werden müssen.
DOMRADIO.DE: Was macht das mit Ihnen als Expertin, wenn Sie versuchen, sich diese Dimension der Klimawandelfolgen vorzustellen?
Schroeder: Es ist absolut unfassbar und sprengt meine Vorstellungskraft. Ich habe gestern noch eine Statistik gesehen, wie der Klimawandel sich auf Dürren in Nordafrika auswirken wird. Da war die Rede davon, dass eine durchschnittliche Dürre dort im Moment zwei bis drei Monate dauert und das auf 20 Monate hochgehen kann. Das ist schwer zu erfassen.
Früher ist es mir ganz gut gelungen, diese Realitäten im Büro zu lassen. Jetzt, wo man die Veränderungen auch zunehmend in der deutschen Landschaft sieht, wird es immer schwieriger, nicht den ganzen Tag vom Klimawandel begleitet zu sein. Ich sehe mir einen Baum an und frage mich, ob er in 20 Jahren noch da ist oder dann schon ausgetrocknet sein wird.
DOMRADIO.DE: Die Forscher haben auch Forderungen, was sich konkret verändern müsste, um den Klima-Notfall in diesem Ausmaß zu vermeiden. Was sind da die größten Faktoren?
Schroeder: Sie haben fünf Handlungsbereiche benannt, in denen sich dringend etwas ändern muss und wo sehr viel erreicht werden kann. Sie sagen, wir müssen dringend und sofort raus aus den fossilen Rohstoffen. Dazu gehört auch, dass die Politik das nicht mehr aktiv fördern darf. Momentan fließen nämlich staatliche Subventionen nach wie vor in die Gewinnung und den Verkauf von fossilen Energieträgern.
Die Wissenschaftler sagen, dass es ganz wichtig ist, sich von dem Ziel zu verabschieden, Politik nur am Wachstum des Bruttosozialprodukts auszurichten. Diese Zeiten sind vorbei. Die kurzlebigen Treibhausgase wie Ruß und Methan müssen runter gehen. Um Methan zu reduzieren, ist vor allem der Bereich der Viehhaltung ganz elementar. Und da sagen Sie ganz deutlich: Wir brauchen eine pflanzenbasierte Ernährung.
Das Interview führte Martin Bornemeier.