Richtungskampf in der neoliberalen "Schweiz Südamerikas"

Stichwahl in Chile

In Chile steht die Stichwahl für das Präsidentenamt an. Einer der beiden polarisierenden Kandidaten wird Nachfolger von Sebastian Pinera. Eins der drängenden Probleme im Land ist der Konflikt mit den indigenen Mapuche.

Symbolbild Stimmabgabe an einer Wahlurne / © roibu (shutterstock)
Symbolbild Stimmabgabe an einer Wahlurne / © roibu ( shutterstock )

Fast 15 Millionen Chilenen können am Sonntag ihren Präsidenten für die nächsten vier Jahre wählen, Nachfolger des wirtschaftsnahen Regierungschefs Sebastian Pinera (72). Dessen Beliebtheitswerte waren im Keller, seit er auf die im Oktober 2019 begonnenen Sozialproteste mit Polizeigewalt reagierte. Hinzu kamen innenpolitische Skandale, die seine Glaubwürdigkeit erschütterten. Da die Verfassung ohnehin eine weitere Kandidatur verbietet, geht eine insgesamt glücklose Amtszeit zu Ende.

Im ersten Wahlgang kam der "chilenische Bolsonaro" Jose Antonio Kast (55) von der rechtsnationalistischen Partido Republicano auf 28 Prozent der Stimmen, der erst 35-jährige Linkspolitiker Gabriel Boric auf 26 Prozent. Der konservative Katholik Kast stützt sich unter anderem auf eine stetig wachsende Zahl evangelikaler Christen im Land; rund 18 Prozent der Bevölkerung machen sie laut jüngsten Statistiken aus. Boric, einer der führenden Köpfe der Studentenbewegung, steht an der Spitze des kommunistisch-sozialistischen Bündnisses Apruebo Dignidad.

Zerrissenes Land

"Die Wahl macht die tiefe Zerrissenheit des Landes deutlich", berichtet Yvonne Bangert, Referentin der Gesellschaft für bedrohte Völker. Auf der einen Seite stehe mit Kast "ein Kandidat der neoliberalen, erzkonservativen Machtelite, die das Erbe der Pinochet-Diktatur fortsetzen" wolle; auf der anderen Seite der Linke Boric, der "im Fall seines Sieges auf die Unterstützung von Sozialisten und Kommunisten angewiesen sein wird", so Bangert.

Zuletzt waren die Zeiten in Chile turbulent. Die Sozialproteste 2019 mündeten in ein Referendum, das den Auftrag zu einer neuen Verfassung erteilte, die die in Teilen noch aus den Zeiten der Militärdiktatur (1973-1990) stammende ablösen soll. Die Präsidentin des Verfassungskonvents, Elisa Loncon, sagte zu Beginn im Juli: "Wir müssen hart arbeiten, um Chiles Narben zu heilen." Es brauche dazu auch gegenseitiges Wohlwollen und Fantasie, so die Politikerin der indigenen Minderheit der Mapuche. Der konservative Kandidat Kast hat bereits erklärt, dass er auf den verfassungsgebenden Prozess verzichten kann.

Loncon kündigte an, sich für ein multikulturelles und multiethnisches Land einzusetzen. Doch bislang ist in der "Schweiz Südamerikas" das neoliberale Modell gesetzt - quer durch alle etablierten Parteien. Das liegt wohl auch daran, dass sich fast ausschließlich Politik und Wirtschaft gegenseitig befruchten: Unternehmer wechseln in die Politik, Politiker in die Wirtschaft. Es fehlen alternative Ideen und Modelle, sozial- und geisteswissenschaftliche Impulse.

Teure Hochschulbildung 

Auch auf der Agenda der vorigen, sozialdemokratischen Präsidentin (2014-2018) und derzeitigen UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet hatten zwar soziale Gerechtigkeit und kostenfreie Hochschulbildung gestanden. Doch die Nach-Diktatur-Verfassung mit lediglich einer Legislaturperiode von vier Jahren begünstigt grundlegende Reformen nicht.

Auch Bachelet konnte in Chiles durch und durch marktliberaler Volkswirtschaft nur einige wenige gesetzliche Grundlinien von Solidarität einziehen, etwa beim Arbeitsschutz oder der Bildung von Gewerkschaften. Am elitären neoliberalen Comment rührte sie nicht grundlegend. Dass Bachelet im Wahlkampf öffentlich den Linken Boric unterstützte, kritisierte der scheidende Präsident Pinera scharf. Als Chilenin könne sie zwar ihre Meinung frei äußern; als UN-Menschenrechtskommissarin sei sie aber an die Regeln der Vereinten Nationen gebunden.

Auch ein weiteres Grundübel bleibt im neoliberalen Chile bestehen, gesetzlich etabliert noch am letzten Tag der Pinochet-Diktatur: der Verkauf höherer Bildung nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung. Tatsächlich sind laut einer OECD-Studie die Kosten, ein Kind studieren zu lassen, in Chile relativ gesehen immens hoch. Sehr viele Absolventen gehen mit Zehntausenden Euro Schulden ins Berufsleben.

Rechte der Mapuche

Zu den drängendsten Problemen gehören neben der Corona-Krise auch die Rechte der Mapuche. Die ethnische Minderheit sieht sich vom Staat unterdrückt. Auch nach der Ausrufung des Notstands Mitte Oktober gab es in den Mapuche-Gebieten La Araucania und Biobio immer wieder Tote und Verletzte bei Auseinandersetzungen zwischen Mapuche und Sicherheitskräften.

"Aus menschenrechtlicher Sicht und für politisch aktive Mapuche war klar, dass die Ausrufung des Notstands und die Entsendung der militarisierten Polizei Zündstoff für den Konflikt und kein Mittel zu seiner Beilegung bedeuten würden", so Bangert. Eine große Chance auf Verständigung und Gleichberechtigung in der chilenischen Gesellschaft werde so verspielt. Der Verfassungsgebende Prozess unter Vorsitz der Mapuche Elisa Loncon hatte noch große Hoffnungen geweckt. Inzwischen wächst allerdings auch Kritik an der Mapuche-Bewegung, deren radikaler Flügel seinerseits Gewalt anwendet. Zuletzt gab es immer wieder Brandanschläge.


Mapuche-Dorfbewohner in Temuco, wo Pinera 1977 Bischof war / © Alexander Brüggemann (KNA)
Mapuche-Dorfbewohner in Temuco, wo Pinera 1977 Bischof war / © Alexander Brüggemann ( KNA )
Quelle:
KNA
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